54 Wie werde ich Psychoanalytikerin? Kritische Literatur lesen: Jeffrey Masson: „Final Analysis“

Wer eine Psychoanalyse-Ausbildung macht, betreibt täglich eine Art Hochleistungssport. Man braucht ein gutes Durchhaltevermögen, das nur aufrecht erhalten kann, wenn es mehr Freud als Leid gibt. Die Abhängigkeit von Patienten, Gutachtern, Krankenkassen, Supervisoren, Institutsleitern, Lehranalytikern und den Finanzen lehrt einen, mit Ungewissheiten zu leben. Man ist wieder Schüler und stellt sich selbst in Frage. Man lernt, dass auch Psychoanalytiker nur Menschen sind, die die Institutsstrukturen mitgestalten und unter Systemen leiden.

Psychoanalyse ist immer mit intensiven Beziehungen und somit auch mit starken Gefühlen verbunden. Liebe, Trauer, Neid, Eifersucht, Angst, Ärger, Hass, Rachegefühle und Enttäuschungen werden in der Ausbildung auch deshalb so intensiv erlebt, weil ein Ausbildungsinstitut familiäre Strukturen bietet, in denen viele alte Probleme wieder zutage treten können.

Krisen gehören zur Ausbildung

Einige kommen vielleicht mehrmals an den Punkt, an dem sie sich fragen, ob sie die Ausbildung überhaupt fortsetzen möchten. An so einem Punkt liest man vielleicht auch gerne mal kritische Literatur wie das Buch von Jeffrey Moussaieff Masson (geb. 1941): „Final Analysis. The Making and Unmaking of a Psychoanalyst“ (Addison-Wesley Publishing Company, 1990, amazon).

Der Autor wurde bekannt durch sein Buch „The Assault on Truth“, in dem er darüber schrieb, warum sich Freud (angeblich) von der Verführungstheorie distanzierte. Masson wollte betonen, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit meistens tatsächlich stattgefunden hat, wenn sich Patientinnen und Patienten daran erinnern können. Unter anderem in der Folge dieser Diskussionen wurde er als Direktor des Sigmund-Freud-Archivs („These documents are protected and preserved at the United States Library of Congress“) und als Psychoanalytiker aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) entlassen.

Ein Weg zum Psychoanalytiker

Der Autor Jeffrey Moussaieff Masson war Anfang 30 und lehrte als Professor für Sanskrit an der University of Toronto, Kanada, als er seine Ausbildung zum Psychoanalytiker begann. Hier erlebte Masson unglaubliche Geschichten. Es war die Zeit, in der die Analytiker noch hinter der Couch rauchten, es keine Ethikkommissionen und keine verlässlichen Non-Reporting-Systeme gab (Non-Reporting-System = der Lehranalytiker darf in der Ausbildungskommission nichts über seinen Ausbildungskandidaten erzählen).

Masson beschreibt, wie er von seinem Lehranalytiker regelmäßig drangsaliert wurde, wie sein Lehranalytiker manchmal bis zu 45 Minuten zu spät kam und dann behauptete, er könne in seiner Praxis machen, was er wolle. Es ist kaum vorstellbar, wie ein Kandidat eine solche „Analyse“ aushalten konnte. Masson nahm unglaubliche Erniedrigungen hin, kam aber aufgrund seiner Abhängigkeit in der Ausbildung nicht von dieser Analyse los.

Das Gefühl des Ausgeschlossenseins

In der Ausbildung ist man sehr mit sich selbst beschäftigt und spürt seine Individualität vielleicht mehr denn je. Das kann unter Umständen dazu führen, dass man sich aus der Gruppe der Mit-Kandidaten ausgeschlossen fühlt, weil man denkt: „So spezielle Probleme wie ich hat hier niemand sonst.“ Das Problem kann sich verstärken, wenn man z.B. weder Arzt noch Psychologe ist und als Akademiker einer anderen Fachrichtung die Ausbildung macht. Viele Kandidaten in der Psychoanalyse-Ausbildung stammen aus einer gehobeneren sozialen Schicht („Wer wird Psychoanalytiker?“) und sind verheiratet. Masson schreibt, wie störend es sich anfühlen kann, wenn man diese Gemeinsamkeiten nicht teilen kann.

„Every single candidate was married – I believe it may even have been a prerequisite, perhaps as a sign of emotional maturity or of social conformity.“ S. 101

Zwischen Schmunzeln und Tragik

Bei vielem, was Masson schreibt, kann man als angehender Analytiker wirklich schmunzeln und denken: „gut getroffen“. Masson gelingt es, in einer spannenden, einfachen und doch intellektuellen Sprache die Psychoanalyse und „die Analytiker“ treffend darzustellen. Manchmal dachte ich beim Lesen erleichtert: „Ihm ging’s genauso.“ Es ist vielleicht schockierend zu lesen, dass anscheinend viele Psychoanalytiker damals, Anfang der 80er Jahre, auf vielen Ebenen noch sehr konform mit den Psychiatern gingen und z.B. Elektrokrampftherapien für eine gute Therapie-Möglichkeit hielten.

Im Laufe des Buches entsteht das Bild, dass Masson in der Psychoanalyse von nahezu jedem Kollegen letzten Endes enttäuscht wurde. Er schreibt, wie er sich in der Rolle des Psychoanalytikers selbst nicht wohl fühlte.

Die Lehranalyse ist wie eine Kindheit

„Die Lehranalyse ist das Kernstück der Psychoanalyse-Ausbildung.“ Diesen Satz höre ich oft in der Ausbildung. Manche sagen distanzierend: „Die Lehranalyse ist auch nicht alles.“ Aber vielleicht ist sie ein bisschen mit der Kindheit vergleichbar: „Mit einer Kindheit voll Liebe kann man ein ganzes Leben lang aushalten“ (Jean Paul). Und hier liegt vielleicht der Schlüssel zu diesem lebendigen, aber aufgrund der vielen negativen Erlebnisbeschreibungen auch manchmal ermüdenden Buch: Masson hatte keine gute Lehranalyse erfahren. Dadurch ist in ihm der Eindruck entstanden, dass es kaum Kommunikation von Herz-zu-Herz gibt.

„Wisdom, in this technical sense, is not all that difficult to come by. When you have read enough and been to enough case seminars, you know what is expected, what sounds profound, what gives comfort, what appears insightful even if it is not. So much of what I said came from my head, not from my heart. But if it had been any different, I would have been exhausted at the end of the day“ (S. 147).
„Weisheit, im technischen Sinne, kann man hier auf nicht allzu schwierigem Wege erlangen. Wenn du genug gelesen und genügend Fallseminare besucht hast, dann weißt du, was von dir erwartet wird, was tiefgründig klingt, was ein Wohlgefühl auslöst, was einsichtig erscheint, selbst wenn es das nicht ist. So viel von dem, was ich gesagt habe, kam aus meinem Kopf, nicht aus meinem Herzen. Aber wenn es anders gewesen wäre, wäre ich am Ende des Tages ausgelaugt gewesen.“

Und hierin findet sich wahrscheinlich ein „Missing Link“ bei Jeffrey Masson. Was aus dem Herzen kommt, ermüdet nicht, sondern gibt Kraft. Das ist jedoch vielleicht nur so zu spüren, wenn man als Analytiker selbst zuvor die Erfahrung machen konnte, dass die Lehranalyse für beide Beteiligte eine „Herzenssache“ war.

Anstrengend

Psychoanalyse ist konfrontativ, oft hart und erschöpfend, voller negativer Übertragungen und sie wirkt durch das Setting und die Abstinenzregeln manchmal kalt, fast unmenschlich. Alles Unangenehme aus der Kindheit findet hier wieder Platz. Aber sie ist eben gleichzeitig auch freiheitsliebend, haltgebend, tröstlich, gefühlvoll, manchmal unheimlich und oft zutiefst warmherzig und liebevoll (siehe IPA-Kongress 2017 über „Intimität“). Möglicherweise ist die Entwicklung hin zur Intersubjektivität und zur resonanten Präsenz die größte Veränderung, die die Psychoanalyse in ihrer Entwicklung erlebt hat und die in diesem Buch noch nicht auftauchen konnte.

Masson hat sich schließlich den Tieren zugewendet und schreibt hierzu viele inspirierende Bücher, wie z.B. „The Dog Who Couldn’t Stop Loving“ (Goodreads).

„Was euch wirklich müde macht, ist nicht eure emotionale Beteiligung als Arzt, sondern euer ständiger Versuch, diese zu verhindern und euch abzugrenzen.“ (Zitat aus dem Kurs „Arzt und Patient im Rollenspiel“ bei Professor Peter Helmich (1930-2008), Allgemeinmedizin, Uni Düsseldorf, 90er Jahre)

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klaus schlagmann
Siegfried Bettighofer und seine Beschwichtigung der Therapie-Kritik von Margarete Akoluth
https://oedipus-online.de/index.php/siegfried-bettighofer/

Dieser Beitrag erschien erstmals am 15.6.2017
Aktualisiert am 23.8.2022

4 thoughts on “54 Wie werde ich Psychoanalytikerin? Kritische Literatur lesen: Jeffrey Masson: „Final Analysis“

  1. Kati sagt:

    Liebe Frau,

    herzlichen Dank für Ihre offenen Worte! Ich war schon etwas traurig, und dachte, ob ich die Beziehung zu meiner Analytikerin jetzt anzweifeln sollte, ich bin froh, dass Sie das anders sehen!

    Liebe Grüße
    Kati

  2. Dunja Voos sagt:

    Liebe Kati,

    natürlich kann man Worte wählen, die „machen“, dass sich der Patient gut fühlt, aber fühlt er sich dann wirklich gut? Er spürt ja dann unterschwellig auch, dass die Worte des Analytikers nicht mit Gefühl verbunden waren.

    Masson hat denke ich in einer Zeit Analyse gelernt, in der die intersubjektive Psychoanalyse noch nicht so verbreitet war. In seinem Buch schreibt er von extrem schwierigen Situationen, die er in seiner Ausbildung erlebt hat und die heute – so denke ich – so nicht mehr vorkommen dürften und könnten.

    Heutzutage lernen angehende Analytiker sehr, darauf zu achten, was mit ihnen selbst zu tun hat und was vom Patienten kommt, wobei sich die Anteile natürlich auch durchmischen.

    Masson geht glaube ich davon aus, dass der Analytiker emotional relativ unbeteiligt bleibt. Wahrscheinlich konnte der Analytiker in seinem Beispiel nicht genau nachempfinden, was die Patientin als Opfer empfand – wie sollte er auch? Und wer weiß, was wirklich in ihm vorging. Diese Einzigartigkeit eines jeden Traumas ist wohl das Schicksal jedes traumatisierten Menschen. Und doch kann der Analytiker durch seine Präsenz häufig Mitgefühl entwickeln. Auch der Schrecken, der entsteht, wenn das Nicht-Nachemfpindenkönnen bleibt, kann thematisiert werden. Ich denke zudem, dass sich viele Analytiker viel besser in ihre Patienten hineinversetzen können, als die Patienten ahnen.

    Falls das emotionale Unbeteiligtsein beim Analytiker überwiegt, kann man versuchen, es zu verstehen, denn darunter leidet letzten Endes auch der Analytiker. Ich finde, das ist ja gerade das Schöne am Beruf des Psychoanalytikers, dass man sich auch als Analytiker immer wieder sehr ähnlich berührt fühlt wie der Patient. Ich denke, es sind die emotionalen Momente, die wirken (siehe auch „Now Moments“). Ohne Gefühl keine Veränderung und dabei reicht es nicht, wenn das Gefühl nur auf Seiten des Patienten ist. Der Psychoanalytiker Ruprecht Bion sagt, dass Deutungen am besten erst dann kommen sollten, wenn der Analytiker emotional wirklich begriffen hat, was da ist.

    Viele Grüße, Dunja Voos

  3. Kati sagt:

    Liebe Frau Voos,

    das, was Masson hier schreibt klingt ja, als sei die Analyse sehr technisch, dass dem Patienten, das Wohlgefühl nur durch passende Worte vermittelt wird, aber das Herz ist nicht dabei, das fände ich aber sehr traurig, wenn man so einen Beruf wählt und nicht mit dem Herzen dabei ist, wo doch die Beziehung so eine wichtige Rolle spielen soll und der Analysand Vertrauen entwickeln soll, dann fände ich es echt traurig, wenn der Analytiker unecht ist und gar kein Gefühl dabei ist.

    Wie sehen Sie das ??

    Liebe Grüße
    Kati

  4. Dunja Voos sagt:

    Jeffrey Masson hat hierauf geantwortet:

    „Yes, of course in theory psychoanalysis allows us to say our deepest feelings. For the analysand. But what about the analyst? Hard to know what the analyst feels.

    Of course there is the gegenubertragung, but actually we know little about it. Most analysts do not like writing about it. And of course: what happens when the analysts really does not like the patient, or cannot understand, or cannot be empathic? Will the analyst admit this to herself? Will she then admit it to the patient? Or will she think: what is the patient doing to make me feel this way?

    But what if the analyst feels this way when it has absolutely nothing to do with the patient, but only with the analyst? If they cannot see this, then what? It can lead to tragedy.

    I know, because I have seen, during my training, a case like this: a Jewish patient was convinced her analyst, a colleague, could not understand what she went through as a survivor. She was right! But he kept blaming her! Eventually, she killed herself, and we, his colleagues, were supposed to console him!
    We were supposed to feel that he had done everything right, and the fault lay with her. But the fault lay with him! We could not say it, because he was so distraught. But it was clear he was ignorant of what she experienced.

    Now here is the hard question: we are ALL ignorant of what most people feel and experience, so how dare we pretend to be able to help them?? I know this is not a question that will appeal to ANY therapist of any school. Alas, I believe it is true! Only in very rare cases can we help another human being in distress, and then usually in a non-therapeutic setting. So you see, I remain a rebel! You can understand now why analysts and other therapists do NOT want to hear from me! Jeff

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