Operation und Aggression

Möglicherweise könnte man die Hälfte der Patienten einer chirurgischen Klinik heute noch entlassen, ohne dass es den Patienten schlechter ginge. Wie viele Nasescheidenwand-, Knie-, Bandscheiben- oder Endometriose-Operationen bringen den Patienten nichts und werden dennoch durchgeführt. Bereits 2009 erschien auf „Welt-online“ ein Artikel mit dem Titel „In Deutschland wird zu viel operiert“. Aber wie kommt es zu diesen vielen Operationen?
Oftmals führt der Zeitmangel der Ärzte dazu, dass sich die Patienten schlecht beraten fühlen. Sie erscheinen immer wieder beim Arzt und werden doch nur allzu schnell abgefertigt. Die Anamnese wird nicht gründlich durchgeführt und der Patient hat oft das Gefühl, dass sein Leiden gar nicht richtig beim Doktor ankommt.
Immer „bessere“ Spezialisten werden vom Patienten aufgesucht und schließlich kommt es zur Operation. Das muss doch dann helfen, oder? Körperlich vielleicht nicht, psychisch vielleicht doch. Bei der Frage nach dem Warum der Operation spielt das Unbewusste eine große Rolle.
Mutter und Kind: Unbewusste Aggressionen suchen sich ihren Weg
Eine Mutter muss zur Arbeit. Sie weckt morgens ihr Kind und stellt fest: Schon wieder Fieber und Halsweh! Der erste Gedanke mag ziemlich unmütterlich erscheinen: „So ein Mist!“ Sofort verbietet sie sich ihre Aggressionen. „Mein Kind braucht jetzt meine Fürsorge“, so denkt sie sich – und kocht ihm einen leckeren Kakao.
Es ist für viele Mütter schwierig, immer wieder ein krankes Kind zu Hause zu haben. Es setzt sie unter Druck.
Das Kind mag mit seiner Krankheit sagen: „Ich brauche mehr Nestwärme.“ Die Mutter signalisiert aber: „Ich kann/will dir nicht mehr geben, ich muss/will arbeiten.“ Mütter, die ihre eigenen Aggressionen bemerken, können darüber nachdenken und sie verarbeiten. Sie haben vielleicht einen Partner oder Freundinnen, die sie verstehen und sind finanziell abgesichert. So ist ihre natürliche Aggression gut aufgehoben. Wer jedoch die Aggressionen, die nun mal da sind, nicht spüren möchte, wird sie wahrscheinlich umleiten.
Es kann dazu kommen, dass eine Mutter ihre unterdrückte Aggression in Überbehütung umwandelt.
Routieren
Der Wandel von der Aggression zur Überbehütung geschieht nicht aus „bösem Willen“, sondern ganz unbewusst. Sie unternimmt Maßnahmen, die nach Fürsorge aussehen und die gesellschaftlich akzeptiert sind, aber die dem Kind nicht unbedingt gut tun. Die Grenze zum Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist oft fließend. Möglicherweise quält die Mutter das Kind mit übertriebener Medikation, mit strenger Diät oder auch mit Operationen – da werden dann Mandeln entfernt, die Penisvorhaut beschnitten oder Paukenröhrchen gelegt, damit die Mutter „ihre Ruhe hat“. Die Mütter sind übermüdet und es soll endlich Schluss sein mit den Beschwerden des Kindes.
Operationen werden hierzulande früh empfohlen. Doch gerade für Kinder stellen sie oft eine große seelische und körperliche Belastung dar. Es lohnt sich also immer, ganz genau abzuwägen, ob eine Operation notwendig ist oder nicht.
Viele Probleme sollen durch Operationen gelöst werden
Auch, wer mit sich selbst oder mit seiner Partnerschaft nicht zufrieden ist, kann sich allzu leicht unter’s Messer begeben und seelisch daraus sogar einen Nutzen ziehen: Wer unter schweren Schuldgefühlen leidet, der entlastet sich unbewusst oft dadurch, indem er sich selbst Schaden zufügt. Eine Operation bedeutet immer auch Schmerzen. Unbewusste Schuldgefühle können zu autoaggressiven Handlungen verleiten – man lässt sich möglicherweise leichter zu einer Operation überreden, wenn man seelisch gerade besonders wackelig ist.
Operationen sind auch ein Appell an die Umwelt, der da lautet: „Seht, wie sehr ich leide. Bitte kümmert euch um mich. Jetzt bin ich mal dran.“
Operationen sind wirksamer als Spritzen und Spritzen wirksamer als Tabletten
Die Operation ist der krasseste Eingriff, der medizinisch unternommen werden kann. Sie ist ein Zeichen dafür, dass der Patient „wirklich“ sehr krank sein muss. Der Patient scheint selbst das Opfer zu sein, indem er sich aggressiv behandeln lässt. Es fällt dann nicht mehr auf, wie aggressiv er möglicherweise selbst ist. Er lebt seine Aggression manchmal durch eine fragwürdige Operation gegen sich selbst aus.
Auch unausgesprochene partnerschaftliche Konflikte sollen manchmal unbewusst über Operationen geregelt werden.
Der schnarchende Ehepartner möge sich doch beim Chirurgen endlich das Rachenzäpfchen kürzen lassen! Endlich soll dem Übergewicht des Mannes durch ein Magenband der Garaus gemacht werden. Die Frau mit konflikthaftem Kinderwunsch und einer unglücklichen Partnerschaft entzieht sich der Situation, indem sie sich aufgrund ihrer Endometriose wieder und wieder operieren lässt (siehe: Endometriose und die Psyche).
Die Übergänge zwischen selbstverletzendem Verhalten und dem Wunsch, immer wieder operiert zu werden, sind fließend.
Genaues Hinschauen kann unnötige Operationen vermeiden
Oftmals berichten Patienten, dass sie eine Operation umgehen konnten, weil sie einen guten Psychotherapeuten oder Arzt gefunden haben, der sich ihrer wirklich annahm. Immer dann, wenn mehr Raum für entlastende Gespräche geboten wird, können „Operationswünsche“ bzw. das ursprüngliche Leiden zurückgehen.
Wer eine Blinddarmentzündung hat, kann dankbar sein, wenn sofort die lebensrettende Operation stattfindet. Wer aber an chronischen Erkrankungen leidet, bei denen auch die Psyche eine große Rolle spielt, der ist nicht selten emotional unter-, aber technisch überversorgt.
Immer sollte man bedenken, welchem Arzt man mit welchen Beschwerden in die Arme läuft: Der Chirurg wird bei Bauchschmerzen den Bauch aufschneiden, der Internist wird einen Schlauch einschieben, der Psychiater wird Antidepressiva verschreiben. Natürlich sind Differenzialdiagnosen notwendig. Aber oft sollte man sich auch fragen, welchen Arzt man mit welcher Absicht gerade aufsucht. Die Operation als versteckte Aggression. Über diese Möglichkeit nachzudenken, könnte vielleicht so manchem Patienten unnötige Schmerzen ersparen.
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Links:
„Arthroscopic surgery for osteoarthritis of the knee provides no additional benefit to optimized physical and medical therapy.“
Alexandra Kirkley et al.:
A Randomized Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis of the Knee.
The New England Journal of Medicine
N Engl J Med 2008; 359:1097-1107September 11, 2008DOI: 10.1056/NEJMoa0708333
http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/nejmoa0708333
Karolina Wartolowska et al. (National Institute of Health Research Musculoskeletal Biomedical Research Unit, Oxford, UK) (2014):
Use of placebo controls in the evaluation of surgery: systematic review
BMJ 2014; 348 doi: http://dx.doi.org/10.1136/bmj.g3253 (Published 21 May 2014)
http://www.bmj.com/content/348/bmj.g3253
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.11.2012
Aktualisiert am 17.9.2022
2 thoughts on “Operation und Aggression”
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Das Problem ist, dass die Patienten, die sich bei richtigen Ärzten unverstanden fühlen, sehr oft Opfer von dubiosen Heilpraktikern, Homöopathen, Psycho-Coaches, Esoterikern und ähnlich zwielichtigen Zeitgenossen werden.
Deutschland ist das einzige zivilisierte Land auf der Welt, in dem Dilettanten auf kranke Menschen losgelassen werden.
„emotional unter-, aber technisch überversorgt†– da kann ich nur aus vollem Herzen zustimmen. Danke für diesen einsichtsvollen Beitrag! Und liebe Grüße!