
Die Psychoanalytikerin Melanie Klein (1882-1960) hat die Begriffe „paranoid-schizoide Position“ und „depressive Position“ geprägt. Gemeint sind damit Entwicklungsstadien, die ein Kind nach Melanie Kleins Theorie durchläuft. Mit „Position“ ist ein psychischer Zustand, eine psychische Entwicklungsstufe bzw. eine „Organisationsform“ gemeint. Melanie Klein ging davon aus, dass sich das Baby zunächst als ein Teil seiner Mutter wahrnimmt. Seelische Teile von sich selbst, z.B. Wut, projiziert es auf die Mutter. Das Baby fühlt sich direkt nach der Verlagerung seiner Gefühle in die Mutter von der Mutter verfolgt, z.B. weil es glaubt, die Mutter sei wütend.
Aber da es die eigene Wut ist, die – bildlich gesprochen – wieder zurück in die Seele des Babys will, fühlt sich das Baby bedroht. Es ist „paranoid“. Diese Position bezeichnete Klein als „paranoid-schizoide Position“. Diese Position besteht nach Melanie Kleins Theorie während der ersten 4-6 Lebensmonate besonders stark.
Der Schritt zur „Depressiven Position“ ist ein Reifeschritt
Nach der schizoid-paranoiden Position kommt das Baby in die „depressive Position“. Mit zunehmender körperlicher Trennung trennt es sich auch psychisch von der Mutter. Es kann die Mutter immer mehr mit Abstand anschauen. Wenn das Baby reift, erspürt es sich zunehmend als eigene Person. Es spürt seine eigenen Gefühle wie zum Beispiel Wut, und weiß, dass diese Gefühle zu ihm selbst gehören. Getrennt von der Mutter, kann das Baby nun die Mutter als eigene Person mit eigenen Gefühlen erkennen und betrachten. Als Folge davon kommen Gefühle von Trauer, Reue, Schuld, aber auch Dankbarkeit auf – das Kind wird auf eine gewisse Art „depressiv“.
Der Wechsel zwischen paranoid-schizoider Position (PS) und depressiver Position (D) geschieht in Beziehungen ein Leben lang. Es gibt sozusagen ein ständiges „Oszillieren“ zwischen diesen beiden Positionen (PS-D). Während man in einem Moment noch „blind vor Wut“ und mit dem anderen „verknäuelt“ ist, bereut man nach einiger Zeit sein Verhalten. Man wacht auf, ist dann wieder getrennt vom anderen und merkt, wie leid einem alles tut. Man kann den anderen wieder sehen. Sind wir in der paranoid-schizoiden Position, sind wir kaum ansprechbar und „vernünftigen Argumenten“ kaum zugänglich. Wir sind wie „verpappt“ mit dem anderen und liegen mit ihm im „Klinsch“.
Diese beiden „Positionen“, die schizoid-paranoide und die depressive Position, sind nie ganz voneinander getrennt. Auch beim Erwachsenen überwiegt einmal diese und einmal jene „Position“ als psychischer Zustand. Wird die seelische Entwicklung gestört, befindet sich der Betroffene als Erwachsener zu großen Teilen noch in der paranoid-schizoiden Position. Er erlebt sich als nicht wirklich getrennt vom anderen. Er nimmt den anderen nicht als eigenständige Person wahr.
Projektive Identifizierung
Besonders in einer Psychoanalyse wird deutlich, wie der Erwachsene in der „schizoid-paranoiden Position“ seine unerträglichen Gefühle sozusagen in den Analytiker hineinlegt. Diesen Abwehrvorgang nennt man „Projektive Identifizierung“. Der Patient hat also seine Gefühle in den Analytiker projiziert. Jetzt erscheint ihm der Analytiker vielleicht neidisch und wütend. Der Patient identifiziert sich mit dem Analytiker, er scheint sich in ihn einzufühlen. Dieses „Einfühlen“ ist aber ein Trugschluss, denn es ist ja der eigene Neid, den der Patient im Analytiker wiederentdeckt.
Der Patient verhält sich jetzt so, dass er den Analytiker „beruhigt“, damit der nicht mehr „neidisch und wütend“ ist. Somit hat der Patient das Gefühl, er hätte die Gefühle Neid und Wut unter Kontrolle. Dieser Effekt kann so stark sein, dass sich der Analytiker tatsächlich neidisch und wütend fühlt. Der Analytiker fühlt sich auf einmal wie der Patient. Das, was eigentlich zum Patienten gehört, ist dann „im Analytiker drin“. Dadurch kann der Analytiker den Patienten sozusagen ohne Worte verstehen.
Angst vor Rache
Bei psychischen Störungen wie z.B. bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung oder der Borderline-Persönlichkeitsstörung kann diese Art der Projektion sehr extrem sein. Weil man aber irgendwie spürt, dass es eigentlich die eigene Wut ist, die sich im anderen zeigt, fühlt man sich verfolgt. Man hat Angst vor der Rache des anderen. Eigene Gefühle, die man abspaltet und in den anderen „hineinlegt“, wollen zu einem selbst zurück.
Wenn das „Ich“ des Patienten in der Psychoanalyse stärker wird und eigene Gefühle besser erträgt, dann kommt es seltener zu solchen Vorgängen. Der Patient muss dann den Analytiker nicht mehr so sehr benutzen, um sein inneres Gleichgewicht zu behalten.
Der Patient fällt im Laufe der Analyse in gewisser Weise vom Analytiker ab, fällt auf sich zurück, steht dann da, ganz allein, und kann den Analytiker auf einmal als „ganzen Menschen“ erkennen – so, wie er ist. Dann kommt das, was den reifen Menschen auszeichnet: Betroffenheit, Bedauern darüber, dass man den Analytiker so attackiert hat, Trauer über die Trennung, Schuldgefühle und Wünsche, die Verletzungen am anderen wiedergutzumachen.
So unangenehm die Gefühle auch sind – es sind wenigstens die eigenen
Gleichzeitig entsteht aber auch Freude über die Trennung und über die Entdeckung, dass man selbst ja auch ein „ganzer Mensch“ ist. Die Freude, die Trauer, die eigenen Gefühle und die Entdeckung der Trennung machen es möglich, die Beziehung zum Analytiker (oder zu einem anderen Menschen) ganz neu aufzunehmen und echte Nähe herzustellen.
Um das seelische Gleichgewicht zu erhalten, setzt der Patient nun reifere Abwehrformen ein: Anstatt unangenehme Gefühle wie Angst, Wut, Neid oder Schuld von sich abzuspalten und sie einem anderen „anzuheften“, werden unangenehme Gefühle eher ins eigene Unbewusste verdrängt, toleriert und ausgehalten.
Der „reife“ Patient spürt dann, dass die Person, die man liebt auch immer eine Person ist, auf die man wütend sein kann oder die man hassen kann. Die Gefühle können als „Sowohl-als-auch“ akzeptiert werden. In guten Beziehungen überwiegt dann das Gute. Trotz Wut und Neid, die zwischenzeitlich natürlicherweise immer wieder auftauchen, überwiegen Liebe, Wiedergutmachungswünsche und Zuneigung.
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Literatur:
Klein, Melanie (1958):
On the development of mental functioning.
In: Envy and Gratitude and Other Works 1946-1963: S. 236-246
New York: Delacorte 1975
Karnac Books 1993
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.8.2012
Aktualisiert am 2.6.22
Jay meint
Borderline-Persönlichkeiten sind ja sehr geschickt, wenn es darum geht, Gefühle nach außen zu projizieren.
Die Außenwelt wird der inneren Gefühlswelt angepasst.
Manchmal funktioniert dies so gut, dass die als Projektionsfläche benutzten Personen, diese Rolle sogar bereitwillig spielen, ohne zu merken, dass diese Stimmung nicht wirklich von ihnen stammt, sondern in sie
hineingelegt wurde.
Ich habe mich als Kind oft gefragt, was ich den falsches getan, falsches gesagt oder falsches gedacht habe,
wenn ich als Projektionsfläche missbraucht wurde und mich in einer aufgezwängten Rolle wiederfand, die ich mir nicht erklären konnte und die mich extrem verwirrte.
Reiner Mahr meint
Sehr geehrte Frau Voos,
vielen Dank für diese gut verständliche Beschreibung. Es ist bei jedem Patienten/jeder Patientin immer neu und spannend, die Entwicklungsprozesse vor dem Hintergrund dieser Überlegungen (theoretischen Einsichten und Gedanken) zu beobachten und zu begleiten.
Herzliche Grüße
Reiner Mahr