Im Glauben psychische Gesundheit finden? Manchmal würden wir so gerne glauben, aber können es nicht. Und der Psychotiker sagt: „Ich bin Gott.“

Glauben hängt eng mit Beziehung zusammen – genau wie psychische Entwicklung auch. Vielleicht hast du mit deiner Angststörung oder Depression auch schon einmal Halt in der Bibel oder in einer Gemeinde gesucht. Doch vielleicht hast du dich bei der Beschäftigung mit Glaube und Religion noch schlechter gefühlt.

Die Sache mit dem Glauben kann schwierig sein, wenn du kaum sichere Bindungen erfahren hast. Du hast vielleicht kein ausreichend gutes „inneres Objekt“ – die Vorstellung von einem klugen Menschen, der dich in Ruhe lässt und gleichzeitig für dich da ist, fehlt dir vielleicht. „Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“, heißt es in der katholischen Messe. Jede Woche habe ich darauf gewartet, als ich jung war. Doch es wurde nichts gesund. Ich versuchte mein Glück in der Studentenmission und besuchte regelmässig die Bibelabende. Als meine Angststörung sehr gross wurde, suchte ich nach einem Psychotherapeuten. „Aber geh nur zu einem christlichen Therapeuten!“, sagte ein Kommilitone, der später Psychiater wurde. Das machte mir Angst. Glücklicherweise fand ich eine „ganz normale“, neutrale Therapeutin.

Ich erlebte „bibeltreue Christen“ in kleinen, freien Gemeinden eher als „krankmachend“, weil ich das Gefühl hatte, die Suche nach der Wahrheit kommt dort zu kurz. Ich fand es irritierend, dass dort nicht einfach nur naive Menschen waren, sondern dass die Gemeinde reich an Wissenschaftlern und Ärzten war. Das irritierte mich zutiefst. Ich fand meine persönliche Wahrheit schliesslich in der Psychoanalyse. Durch sie wurde ich auf gesunde Weise „spirituell“.

Weinen, Sexualität und Spiritualität hängen zusammen

Wenn es dir selbst psychisch sehr schlecht geht, beschäftigst du dich phasenweise vielleicht auch intensiv mit religiösen Themen. Vielleicht beneidest du auch Menschen, die an einen guten Gott glauben können, doch dir gelingt es nicht. Das lässt sich vielleicht gut verstehen, wenn du auf die Erfahrungen blickst, die du früh mit deinen Eltern gemacht hast. In einer Studie von Hilde Hanevik und Kollegen (2017) kam heraus, dass viele psychisch schwer leidende Menschen zwar Halt in einer religiösen Figur finden, dass die innere Bindung an diesen Heiligen jedoch unsicher ist.

Viele psychische Störungen äussern sich erstmals in der Pubertät sehr deutlich – nicht wenige werden in ihrer ersten Liebesbeziehung psychisch schwer krank (Galdos et al., 2016). Die Fähigkeit zum Orgasmus, die Fähigkeit zu Weinen und zur Spiritualität hängen anscheinend miteinander zusammen. Beispielsweise sind religiöse Frauen einer Studie zufolge orgasmusfähiger als nicht-religiöse Frauen (Kontula und Miettinen, 2016). Wer Antidepressiva einnimmt, leidet in der Folge mitunter unter einem Rückgang der Libido und an der Unfähigkeit, zu weinen.

Vielleicht bist du auf eine Art auch mit „dem Bösen in dir“ beschäftigt – vielleicht wurdest du sehr religiös erzogen oder hattest sehr strenge Eltern. Das überstarke Gefühl, dass da etwas inneres Böses ist, kann sich auch entwickeln, wenn du als Kleinkind grosse Qualen, operative Eingriffe, invasive Therapien oder Missbrauch erlebt hast. Manche Menschen leiden in der Folge an Halluzinationen, wobei es sich dabei vielleicht um eine Art symbolisierte „Erinnerung“ handelt.

Wenn innere aggressive Regungen bedrohlich wirken

Vielleicht kannst du deine Aggressionen nur schwer zulassen, weil du dann unter heftigen Schuldgefühlen leidest. Vielleicht hast du auch Angst, dass dann alle Pferde mit dir durchgehen. Gerade im Christentum steht das Thema „Schuld und Vergebung“ im Vordergrund. Vielleicht suchst du schon lange nach Vergebung und du fühlst dich emotional enttäuscht, wenn du keine Verringerung der Last spürst. Wenn du dich innerlich dann immer weiter verdrehst, wenn du immer friedvoller sein willst, geht es dir immer schlechter. Die amerikanische Psychotherapeutin Virginia Satir (1916-1988) sprach davon, wie wichtig es ist, zu sehen, zu hören, zu denken und zu fühlen, was da wirklich ist – und nicht, was da sein sollte.

Um dein Inneres, deine Aggressionen und deine Schuld nicht stets als überwältigend zu empfinden, brauchst du zunächst mehr „Ich-Stärke“ – damit ist das Gefühl gemeint, dass du der Steuermann auf deinem Boot bist. Dann hat zum Beispiel nicht die Wut dich im Griff, sondern du bemerkst deine Aggressionen und kannst sie steuern. Das klappt wohl nie so ganz, aber mit mehr Ich-Stärke gelingt es öfter.

Diese Ich-Stärke kannst du auf verschiedenen Wegen gewinnen, zum Beispiel, indem du dich dem Yoga, QiGong oder einer anderen Bewegungskunst widmest. Auch Sport im Allgemeinen kann dich selbst kräftigen. Ich-Stärke entwickelst du auch in guten Beziehungen, in denen du dir erlauben kannst, zu spüren, was du wirklich fühlst und denkst. Eine Psychotherapie ist dafür oft ideal. Wenn du ein schwaches Ich hast, leidest du darunter, nicht genau wahrnehmen zu können, was in dir vorgeht – vielleicht, weil es zu weht tut oder weil du extrem streng zu dir selbst bist. Wenn du lernst, dich nicht mehr so hart zu beurteilen, kann es dir mit der Zeit besser gehen. Der Psychoanalytiker sagt dazu: Das strenge Über-Ich soll gelockert werden.

Das Organsisierende kann helfen

Die Religion und die Beschäftigung mit dem Glauben hat einen „organisierenden Effekt“. Wenn du bei sehr ambivalenten Eltern aufgewachsen bist, du vielleicht Gewalt und Verwahrlosung erlebt hast, dann hast du vielleicht eine Art „desorganisierten Bindungsstil“ – Vertrauen und Misstrauen, Zuwendung und Wegstossen liegen so nahe beieinander, dass in den Beziehungen zu deinen Mitmenschen immer alles ganz schnell wechselt. Manchmal bist du selbst ganz ratlos angesichts deines Chaos in Beziehungen.

Religionen haben etwas stark Organisierendes: Dies ist böse, jenes ist gut, es gibt Gebote, Schuld und Vergebung. Es gibt Feiertage und Feste und einen geregelten Jahreslauf. Oft heisst es, es sei unreif, dass Menschen mit einer frühen psychischen Störung (wie z.B. Borderline) ihre Welt in gut und böse spalten. Doch wenn du die Dinge in Gut und Böse aufspaltest, so hat es zumindest seine Ordnung – wenn manchmal auch eine sehr starre Ordnung. Andererseits fühlst du dich manchmal wie im inneren Chaos versunken – oder spürst, dass du dich nicht schuldig fühlen kannst, obwohl es vielleicht richtig wäre. Religionen können mit ihren Gesetzen und Geschichten vieles ordnen. Wichtig ist es, auf der Suche etwas zu finden, das dir selbst entspricht – das kann zum Beispiel auch der Buddhismus sein, der oft ja nicht als „Religion“ gilt und doch irgendwie als Religion daherkommt („Religion“ heisst „Rückanbindung“ an etwas, also zum Beispiel an Buddha, an die Natur oder Jesus). Vielleicht inspirieren dich die Youtube-Videos, die ich mit #Zenmeister Muho Noelke gemacht habe.

Erstaunlicherweise finden viele alkoholkranke Menschen in christlichen Glaubensgemeinschaften oft einen solchen Halt, dass sie von der Alkoholsucht wegkommen. Die Vorstellung, prinzipiell geliebt zu werden und eine Gruppe zu haben, der man nicht egal ist, kann dem Schmerz der Einsamkeit und Sinnlosigkeit entgegenwirken. Manchmal folgt der Alkoholsucht dann jedoch eine starke Strenge, unter der die Mitmenschen leiden können. Bei der Suche nach der passenden Lebensform kann es hilfreich sein, darauf zu achten, innerlich nicht zu streng zu werden.

Frühtraumatisierungen erschweren den Weg zu einer sicheren Beziehung

Wenn du selbst deine vitalen Regungen häufig unterdrücken musstest und Aggressionen nicht zeigen durftest, neigst du vielleicht dazu, das Böse draußen zu sehen: Du meinst sehr oft, ein anderer Mensch gucke böse oder der Teufel verleite dich zum bösen Handeln. Der Vorteil: Du musst dann nicht sagen: „Das war ich selbst.“ Doch dadurch wird dein Ich geschwächt. Durch die Verlagerung des Aggressiven nach außen steigt auf Dauer die innere Angst, das Schlechte könnte von aussen zu dir „zurückkommen“. Das äußere Böse kann andererseits auch als eine Art „Erinnerung“ verstanden, denn vielleicht hast du schon sehr früh erlebt, dass die Gewalt durch Vater oder Mutter in dich eindrang.

Wenn du in deinen ersten Lebensjahren besonders furchtbare Lebens- und Gefühlserfahrungen gemacht hast, kann dein Glaube entsprechend angsterfüllt ausfallen.

Spiritualität ist oft etwas Schwebendes, Unklares, nicht Fassbares. In der Meditation, im Gebet oder im gemeinsamen Gesang kann so etwas wie ein grenzenloses, „ozeanisches“ Gefühl entstehen. Durch die entspannte Muskulatur oder den Gleichklang im Gesang mit anderen kannst du dich „entgrenzt“ fühlen. Das kann dir besonders dann Angst machen, wenn dir das Gefühl von Halt und Boden in dir selbst oder bei anderen fehlt. Erst, wenn du mehr Grenzen und Halt findest, zum Beispiel auch körperlichen Halt durch Yoga, fällt es dir leichter, dich auf „Schwebendes“ oder „Spirituelles“ einzulassen. Hier kann es auch sehr hilfreich sein, das „Nein-Sagen“ zu erlernen – so wirst du später fähig, zusammen mit anderen „Ja“ zu sagen, ohne das Gefühl zu haben, du würdest dich auflösen.

Besonders in einer Analytischen Psychotherapie lässt sich besser begreifen, was Realität und Phantasie, was Innen und was Außen ist. Vielleicht entwickeln wir erst langsam ein Gespür für eine persönliche Grenze. Für manche ist der Psychoanalytiker der erste Mensch, der sie versteht und der ihnen dabei Sicherheit bietet. Viele erleben erstmals, dass die eigenen Gedanken sicher sind und der Analytiker sie nicht einfach so lesen kann. Sie erleben, dass ein anderer konstant da ist, dabei gleichzeitig Respekt hat, nicht zu nahe kommt und nicht eindringt. Die „Deutungen“ (Interpretationen), die der Analytiker liefert, können zu einer so grossen Erleichterung und Befreiung führen, dass sie mit einer „religiösen Erfahrung“ vergleichbar ist. Die Beruhigung, die du in einer psychotherapeutischen Sitzung erfahren kannst, kann enorm sein.

Wenn du dich mit deinem Leiden auseinandersetzt, wird es mit der Zeit oft möglich, sich eine Vorstellung von einem „guten Anderen“, vielleicht auch von einem guten Gott, zu machen. Es kann die „Repräsentanz“ (gefühlte Vorstellung) von einer guten Beziehung in dir entstehen oder auf deutsch gesagt: Du kannst dir immer leichter eine wirklich gute Beziehung zu dir selbst und anderen vorstellen. Erst durch das Gefühl eines „schützenden Mantels“, einer guten Grenze und einer inneren Stärke können wir auf gesunde Weise offener für die großen Fragen des Lebens werden. Empfehlenswert finde ich hier das Buch „Psychoanalysis and Religion“ (amazon) des australischen Theologen und Psychoanalytikers Neville Symington (1937-2019).

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„Ich bin Gott!“ Warum Menschen mit Psychosen das oft glauben

Viele Psychotiker haben in der frühesten Kindheit die schlimmsten Dinge erlebt. Nicht wenige konnten nur überleben, indem sie sich „tot“ stellten oder sich so allmächtig wie einen Gott erlebten. Manche sind vielleicht auch in einer „mächtigen Mutter“ aufgegangen, zum Beispiel, wenn die Mutter keine Trennung zulassen konnte. Als Kinder hielten wir unsere Eltern für allwissend. Wenn ein psychotischer Patient kommt und behauptet, er sei Gott, ist die Versuchung groß, ihm zu zeigen, dass es nicht so ist, doch das ist schwierig.

Die Autoren Daniel Knafo und Michael Selzer stellen dieses Dilemma in ihrem Buch „From Breakdown to Breakthrough“ (Routledge, 2024, S. 40-43) eindrücklich dar. Sie schlagen vor, auf eine spezielle Art nachzufragen, z.B. so: „Seit wann weißt Du, dass Du Christus bist?“ (S. 42) So kann der Patient sich ernst genommen fühlen, seine Welt mit dem Therapeuten teilen und durch Nachdenken gleichzeitig nach alternativen Sichtweisen suchen. Der Therapeut dürfe nicht vergessen, dass der Patient in einem komplizierten Wahnsystem stecke, so Knafo und Selzer (S. 40 ff.).

Es kann für jeden Menschen zeitweise sehr schwierig sein, sich als ein „Selbst“ zu erleben, ohne gequält zu sein. Wir können Subjektivität als so qualvoll erleben, dass wir sie vermeiden. Es kann uns bei einer psychischen Störung schwer fallen, uns selbst als jemanden wahrzunehmen, der eigene Absichten hat und der etwas auslösen kann, was Konsequenzen hat. Wir wollen unschuldig bleiben. Andererseits fürchten wir uns manchmal vor unserer eigenen Macht – doch auch sie hat Grenzen.

Vielleicht fühlen wir uns auch gequält von unguten „Ich-Gefühlen“. Es gibt ein Problem mit dem „Ich“ und Antworten werden gesucht. Da könnte man an die Bibelstelle denken, in der Gott sagt: „Ich bin, der ich bin.“ (2. Mose 3:14, ERF Bibleserver). Das „Ich“ kann in unserer unbewussten Vorstellung mit dem Gefühl der „Allmacht“ zusammenhängen – besonders dann, wenn wir uns ohnmächtig oder sehr schuldig fühlen. Vielleicht hast du auch schon mal erlebt, wie du in einer ohnmächtigen Situation das Gefühl bekamst: „Ich schaffe alles!“ Du konntest deine innere Stärke gut fühlen. Andererseits ist das „Ich“ schwer fassbar und schwer zu beschreiben – ähnlich wie ein „Gott“ auch. Ich finde das Bild vom „Göttlichen in uns“ treffend.

Im Buch „From Breakdown to Breakthrough“ (Routledge, 2024): schreiben Danielle Knafo und Michael Selzer (S. 53): „A patient might declare, „If I say I am Jesus Christ, it is because I am Jesus Christ.“ There is nothing to interpret or understand here, beyond the literal meaning of the statement. Because fear is the patient’s overwhelming dynamic, they are more likely to signal what they wish to avoid than what they seek. Desire must take back seat to protection.“ | (Frei übersetzt von Voos:) „Ein Patient sagt vielleicht: ‚Wenn ich sage, ich bin Jesus Christus, dann deshalb, weil ich Jesus Christus bin.“ Hier gibt es (für den Therapeuten) nichts zu interpretieren oder zu verstehen. Weil die Angst so überwältigend ist, macht der Patient eher deutlich, was er unbedingt vermeiden will. Das, wonach er sucht und was er sich wünscht, muss zum eigenen Schutz hinten anstehen.“

Viele Psychotiker beschäftigen sich stark mit Glauben und Religion. Es könnte dann sogar ein Unterschied sein, ob ein Betroffener sagt, er sei Gott oder ob er behauptet, er sei Jesus. Denn Jesus war auch ein Mensch und vor allem ein Sohn, der in Beziehung zu seinem Vater stand. Daher ist es interessant, einmal zu beobachten, ob sich ein psychotischer Patient im Laufe der Psychotherapie sozusagen von Gott zu Jesus hin entwickelt.

Ein Universum, aus dem der Ausgang erst gefunden werden muss

Wenn unsere Kommunikation und die Beziehung zu anderen sehr gestört ist, haben wir das Gefühl, dass wir in unserem eigenen, oft entsetzlichen Universum sind. Vielleicht haben wir sogar recht damit, dass wir das Unvorstellbare, das wir erlebt haben (z.B. Operationen, Vojtatherapie, andere Gewalt), nur mit sehr wenigen Menschen teilen können – wenn überhaupt. Wenn wir nur schwer mit anderen kommunizieren können, so können wir manchmal auch nur schwer mit „uns selbst“ kommunizieren. Statt eines „Ich“ oder „Selbst“ es gibt vielleicht nur ein Irgendwas – wir verlieren manchmal den Kontakt zu uns selbst. Es fehlt, symbolisch gesprochen, der innere Vater, der Abstand schafft und uns aus dem Chaos, dem Schlamm, herausführt (siehe hierzu auch Lacan, z.B. „Name-des-Vaters“, Wikipedia).

Es ist vermutlich gar nicht so selten, dass Menschen mit Psychosen sich zwischendurch für Gott halten. Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900), der an einer Demenz starb, soll sich selbst zeitweise für Gott gehalten haben. Sein Vater, der Pfarrer Carl Ludwig Nietzsche, verstarb 1849, als Nietzsche fünf Jahre alt war. Nietzsches berühmtes Thema „Gott ist tot“ könnte aus psychoanalytischer Sicht auch als „Vater ist tot“ gedeutet werden – mit allen kindlichen Phantasien dazu wie z.B. der Phantasie, selbst schuld am Tod des Vaters zu sein (siehe ödipale Phase).

Manchmal tritt in der Psychose die Überzeugung bzw. das Gefühl, Gott zu sein, in grosser Qual auf. Manchmal taucht das Gefühl jedoch auch in der Befreiung und Erleichterung auf. Starke Atemübungen können dazu führen, dass ein so schwebendes Gefühl entsteht, dass das „kernige Ich“ nicht mehr spürbar ist und stattdessen das Gefühl auftritt, „überall“ zu sein, quasi wie ein Gott.

Nicht zuletzt können auch die Religion und Glaubensgemeinschaften selbst schwer krank machen. Ich erlebe sehr selten, aber immer mal wieder, Menschen, die schreckliche Erfahrungen mit extremem „Christentum“ gemacht haben. Dann besteht die Therapie darin, mit den Betroffenen die schrecklichen Erfahrungen zu bearbeiten, sodass sie nach und nach die Angst vor Trennungsschritten verlieren.

Ronald Britton: Glaube, Phantasie und psychische Realität (Buchtipp) Der britische Psychoanalytiker und „Kleinianer“ Ronald Britton beschreibt, wie Gedanken und Glauben entstehen können und was „Psychische Realität“ bedeutet. Anhand von Fallgeschichten beschreibt er eindrücklich, was in jenen Menschen vorgeht, die fanatisch glauben und in solchen, die „zu realistisch“ sind. Beziehungen spielen dabei immer eine RolleIns. Besonders die Begriffe projektive Identifizierungschizoid-paranoide und depressive Position sind wichtig. Britton schreibt über den Schriftsteller William Blake, Wikipedia (1757-1827) und den englischen Dichter John Milton, Wikipedia (1608-1674): „Das Primat der Liebe – also die Überzeugung, dass Gott die Liebe verkörpere – verbindet Blake und Milton; was sie trennt, ist die Frage, wo das Göttliche zu finden sei“ (S. 214). Das englische Original („Belief and Imagination. Explorations in Psychoanalysis“) wurde mit großer Sorgfalt ins Deutsche übersetzt.

Die Bibel und die Psychoanalyse

Wer ein psychoanalytisches Grundwissen hat, kann die Bibel auch psychoanalytisch verstehen. Viele Geschichten spiegeln das Unbewusste und die Entwicklung der kindlichen Psyche wider. Zuerst muss sich die kindliche Psyche sortieren: Sie muss Innen und Außen trennen, Hell und Dunkel, Erde und Wasser. Im Alten Testament finden wir häufig ein klares „Gut und Böse“. Die Säuglings- und Kleinkindforschung zeigt, dass kleine Kinder ihre Welt zuerst in „Gut und Böse“ einteilen, bevor sie später differenzierter wahrnehmen und denken können. Wichtig für die Entwicklung des Bewusstseins ist die Sprache – und wie interessant ist es, einmal zu schauen, ob es in den Bibel-Übersetzungen heißt: „Im Anfang war das Wort“ oder „Am Anfang war das Wort“.

Genau wie die Märchen, Sagen und Mythen stellen auch die biblischen Geschichten häufig das unbewusste Denken dar. Ein gutes Beispiel ist die Geschichte vom zweifelnden Thomas, der Jesus berühren muss, um sich seiner Existenz sicher zu sein. „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben“, heißt es. Man könnte es übersetzen mit: Selig sind die, die sich auch nach einer Trennung noch mit dem anderen verbunden fühlen können. Psychisch schwer kranke Menschen oder sehr kleine Kinder sind unbedingt auf die körperliche Anwesenheit der anderen Person angewiesen. Sie müssen konkret spüren, dass der andere da ist, sie müssen ihn anfassen können. Erst mit zunehmender Reife wird eine innere Vorstellung, eine „Repräsentanz“ aufgebaut, sodass die reale körperliche Anwesenheit des anderen nicht mehr so lebenswichtig ist (Objektkonstanz). Wer die biblischen Geschichten einmal mit psychoanalytischem Ohr hört, kann viel Interessantes entdecken.

Und was sagte Freud zur Religion?

In seinen Schriften zum „Unbehagen in der Kultur“ (Psychologie Fischer, 1994, S. 48) finden sich diese Aussagen: „Es wird aber behauptet, dass jeder von uns sich in irgendeinem Punkte ähnlich wie der Paranoiker benimmt, eine ihm unleidliche Seite der Welt durch eine Wunschbildung korrigiert und diesen Wahn in die Realität einträgt.“ … „Eine besondere Bedeutung beansprucht der Fall, dass eine größere Anzahl von Menschen gemeinsam den Versuch unternimmt, sich Glücksversicherung und Leidensschutz durch wahnhafte Umbildung der Wirklichkeit zu schaffen. Als solchen Massenwahn müssen wir auch die Religionen der Menschheit kennzeichnen. Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt.(Sigmund Freud, Unbehagen in der Kultur)

Und weiter: (Seite 51:) „Die Religion beeinträchtigt dieses Spiel der Auswahl und Anpassung, indem sie ihren Weg zum Glückserwerb und Leidensschutz allen in gleicher Weise aufdrängt. Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat.“ … „Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen.“

Freud zitiert auch Goethe, der sagte: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion. Wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion!“ (Das Unbehagen in der Kultur, S. 41, Zitat von Goethe aus „Zahme Xenien“ IX, Beck) Freud weiter: „Auch die Religion kann ihr Versprechen nicht halten. Wenn der Gläubige sich endlich genötigt findet, von Gottes ‚unerforschlichem Ratschluss‘ zu reden, so gesteht er damit ein, dass ihm als letzte Trostmöglichkeit und Lustquelle im Leiden nur die bedingungslose Unterwerfung übrig geblieben ist. Und wenn er zu dieser bereit ist, hätte er sich wahrscheinlich den Umweg (Anm.: über die Religion) ersparen können.“

Römerbrief 8, 26-27: „Der Geist hilft unser Schwachheit auf, denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sichs gebühret; sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen.“
Bachwerkeverzeichnis 226; Der Geist hilft unserer Schwachheit auf, Youtube

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Links:

2027 kommt der Kirchentag nach Düsseldorf
„Wir sehn uns!“ 5.-9. Mai 2027
kirchentag2027.ekir.de/

Johann Sebastian Bach:
Nach dir Herr, verlanget mich
Bachwerkeverzeichnis BWV 150, Voces8
Youtube

Video mit Zen-Meister Muho Noelke:
Ist Glauben ungesund?
Gespräch Nr. 33, Youtuube

Zwischen Couch und Kirche
Podcast von Psychologin und Christin Nelli Kronwald rund um Psychologie und Glaube.
www.youtube.com/…
Vom Stigma zur Chance: Christliche Perspektiven einer Fachärztin (für psychosomatische Medizin), Youtube

Paula Thomson and S. Victoria Jaque (2014):
Unresolved mourning, supernatural beliefs and dissociation: a mediation analysis.
Attachment & Human Development (2014),
Volume 16, Issue 5, pages 499-514
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www.tandfonline.com/doi…

Neville Symington:
Psychoanalysis and Religion: Questioning the Claims of Psychoanalysis and Religion.
Continuum International Publishing, Juli 1996
amazon

Marcus Pound, 2007
Theology, Psychoanalysis and Trauma
Veritas-Serie, SCM Press 2007
durham-repository.w…81343
amazon

Osmo Kontula and Anneli Miettinen
Determinants of female sexual orgasms
Socioaffective Neuroscience & Psychology, Volume 6, 2016 – Issue 1
doi.org/10.3402/snp.v6.31624
www.tandfonline.com/doi/full/…
„On the other hand, religious women were more likely to experience orgasms in the intercourse than were those women who regarded religion not at all important. The association was much weaker when church attendance was considered.“

Hilde Hanevik et al. (2017):
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brill.com/…
„The study illustrates how the patients understood their hallucinations as mystical experiences. … However, their religiousness often contained religious omnipotent delusions, and built on hallucinations, displayed an unsecure relationship to the sacred figure. From a psychiatric point of view, the misinterpretation of hallucinations as mystical experiences may reinforce their delusional system and cause an obstacle to recovery.“ (Anmerkung Voos: Die Ansicht vieler Psychotherapeuten, der Psychotiker würde die Halluzinationen als mystische Erfahrung „missinterpretieren“, ist oft ein Problem, weil sich der Psychotheraepeut damit „über“ den Patienten stellt und meint, genau zu wissen, dass es sich um eine Fehlinterpretation handelt. Das kann Patienten auch davon abhalten, psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Besser wäre es, der Autor würde von „Interpretation der Halluzination als mystische Erfahrung“ sprechen.)

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Dunja Voos:
Ungeliebte glauben eher an Gott.
DocCheck, 28.11.2014

Dieter Funke (2023):
Als Himmel und Erde sich trennten
Die Dualisierung des Bewusstseins in Psychoanalyse und Religion
Psychosozial-Verlag, 2023

Jacob A. van Belzen:
Musik und Religion: Psychologische Zugänge
Springer, 2013

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Troubled by Faith: Insanity and the Supernatural in the Age of the Asylum
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The varieties of Religious Experience
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Danielle Knafo and Michael Selzer (2024):
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Psychoanalytic Treatment of Psychosis

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(Routledge London/New York 1998)

Jacob A. van Belzen:
Musik und Religion: Psychologische Zugänge
Springer, 2013

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 7.2.2015
Aktualisiert am 21.12.2025

One thought on “Im Glauben psychische Gesundheit finden? Manchmal würden wir so gerne glauben, aber können es nicht. Und der Psychotiker sagt: „Ich bin Gott.“

  1. ibag sagt:

    Dieser Text bringt mich sehr zum Nachdenken und ebenso die dahinterstehende Frage fehlender bzw. mißglückter frühkindlicher Bindungen und Aufbau einer guten Gottesbeziehung. Als ehemalige Katechetin für Vorschulkinder war ich immer bestrebt, Kinder zu einer guten Gottesbeziehung heranzuführen, d. h. vor allem auch den liebenden Gott kennen zu lernen. Aber ist dies eigentlich möglich, wenn das sogenannte Urvertrauen fehlt bzw. die Beziehungen zu den grundlegendsten Bezugspersonen nicht vorhanden ist?

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