Werden Schreibabys zu „ADHS-Kindern“? Irgendwie sind sie es schon.

„Mein Baby war ein Schreibaby und ich habe das Gefühl, dass das nie aufgehört hat. Immer ist mein Kind unruhiger und auffälliger als andere Kinder geblieben.“ Vielleicht kennst Du das. Eine Studie von Ina Santos und Kollegen (2014) gibt Dir recht: Kinder, die mit drei Monaten exzessiv schreien, zeigen im Alter von vier Jahren häufiger Verhaltensauffälligkeiten als ruhigere Babys. Vielleicht macht Dir das Angst – doch jede Mutter-Kind-Geschichte sieht anders aus. Wenn Du ein Schreibaby hast, merkst Du das sehr schnell. Schreibabys strecken sich im Arm und lassen sich nicht beruhigen. Daran hast Du keine Schuld.

Du fühlst Dich vielleicht allein – vielleicht leidet auch Dein Partner oder Du bist alleinerziehend. Viele Lebensumstände können dazu führen, dass Dein Baby zu viel schreit. Es will eine Geschichte erzählen – es ist vielleicht auch Deine Leidensgeschichte. Doch das Zuhören ist schwierig. Versuche in ruhigeren Momenten, die Mimik Deines Babys zu erwidern. Verfolge es nicht mit Deinen Blicken, wenn es sich von Dir abwendet. Doch erwarte nicht zu viel von Dir. Manchmal hilft nur Teetrinken.

Du liegst mit Deinen Eindrücken richtig und merkst, wenn Dein Baby zu viel schreit

Du kannst nichts dafür – zum Beispiel für die Lage, in der Du bist und für das, was Dir und Deinem Baby geschehen ist. Du kannst viel über Dich und Dein Baby lernen.

Die offizielle Definition für das „Schreibaby“ lautet: „Schreit das Kind an drei Tagen der Woche jeweils länger als drei Stunden und hält dieses Zustand länger als drei Wochen an, dann ist das Kind ein Schreibaby.“ So hat es der amerikanische Kinderarzt Morris A. Wessel im Jahr 1954 formuliert.

Ab dem Jahr 2004 untersuchte die Psychologin Ina Santos zusammen mit ihren Kollegen über 4000 junge Mütter und ihre Babys. Studienmitarbeiter besuchten die Mütter, als ihre Babys drei Monate alt waren und fragten sie, ob ihr Baby mehr, weniger oder ungefähr genauso viel wie andere Babys schreit. Die Antwort der Mütter war natürlich subjektiv – möglicherweise gab es auch empfindliche Mütter, die bereits ein normales Schreien als exzessives Schreien empfanden. Andererseits zeigt die Erfahrung, dass Eltern, die mit ihrem Baby eine Schreibaby-Ambulanz aufsuchen, tatsächlich ein Kind haben, das mehr schreit als andere.

In der Studie von Ina Santos schrien knapp 12% der Babys nach Angaben der Mütter exzessiv. Dies entspricht in etwa dem Ergebnis einer niederländischen Studie aus dem Jahr 2001: Hiernach liegen die Prävalenzraten (also die Zahl der betroffenen Kinder) je nach Definition des exzessiven Schreiens bei 1,5-11,9% (Reijneveld S. et al., 2001). Ältere und gebildetere Mütter hatten in dieser Studie seltener ein Schreibaby als jüngere Frauen mit einem niedrigeren Bildungsgrad.

Auffällig mit vier Jahren

Rund 30% der Schreibabys waren – gemessen mithilfe der Children Behavioral Checklist (CBCL) – mit vier Jahren auffällig. Sie zeigten ein unruhiges, an ADHS erinnerndes Verhalten. Von den Kindern, die in der Babyzeit nicht übermäßig schrien, zeigten hingegen nur 20% ein auffälliges Verhalten, so das Ergebnis der brasilianischen Studie. Das klingt nicht gerade beruhigend, wenn man Mutter und Vater eines Schreibabys ist. Doch was kann man tun?

Vielleicht findest Du den kleinen Lehr-Film der Psychoanalytikerin Beatrice Beebe hilfreich. Sie untersucht sehr liebevoll die frühe Mutter-Kind-Kommunikation per Mikroanalysen und zeigt das Beispiel einer Mutter mit einem Schreibaby: A story of one mother and infant, Youtube. Hier lassen sich kleine Tipps ableiten, die es Mutter und Kind leichter machen können, z.B. indem man auf den Mund des Babys schaut und spielerisch seine Mimik imitiert oder indem man bemerkt, wann es seinen Kopf zur Seite dreht und es dann bewusst in Ruhe lässt, um dann wieder präsent zu sein, wenn es wieder den Kontakt sucht.

Stress reduziert die Fähigkeit, sich einzufühlen

Wenn Du angespannt und ängstlich bist, kannst Du schlechter auf Dein Kind eingehen, als wenn Du entspannt bist – das weißt Du sicher und helfen tun solche Sätze gar nicht. Du hast einen Grund für Deine Verfassung und oft lässt sich vieles nicht ändern. Wenn Du also solche Studien liest, dann mach Dich nicht verrückt – allein, dass Du Dir Gedanken machst, zeigt, dass Du bei Deinem Kind bist.

Aber vielleicht möchtest Du doch wissen, was die Studien sagen: Eine besondere Rolle spielt eine erhöhte Ängstlichkeit der Mutter, die schon vor der Geburt bestand. Eine Studie von Bea Van den Bergh und Alfons Marceon (2004, Universität Leuven, Belgien) mit 71 Müttern kam zu dem Ergebnis, dass eine erhöhte Ängstlichkeit der Mutter die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ihr Kind mit 8- bis 9 Jahren ADHS-Symptome zeigt. Dieses Ergebnis geht Hand in Hand mit Studienergebnissen der Psychologin Johanna Petzoldt und Kollegen der Technischen Universität Dresden (2014): Werdende Mütter mit Angststörungen haben häufiger Kinder, die exzessiv schreien.

Die Kommunikation verbessern

Die psychische Verfassung der Mutter, exzessives Schreien sowie spätere ADHS-Symptome hängen also eng zusammen. Doch auch der Vater spielt eine Rolle. Der Kinderanalytiker Hans Hopf beschreibt in seinem Buch „Die Psychoanalyse des Jungen“ (Klett-Cotta, 2. Auflage 2015) inwiefern der fehlende Vater zur Entwicklung von ADHS-Symptomen beitragen kann. Gleichzeitig sind Mütter sehr belastet, die ihre Kinder ohne Vater oder in starken Konflikten mit dem Vater aufziehen müssen. Manche Kinder versuchen auch, die depressive Mutter durch ein hyperaktives Verhalten zu stimulieren.

Schreit Dein Baby extrem viel und kannst Du es nicht beruhigen, dann hältst Du vielleicht eine Art Sicherheitsabstand. Du fragst Dich immer wieder: Wann schreit mein Baby wieder? Dadurch reagierst Du vielleicht angespannt auf unruhige Äußerungen Deines Babys und „verfolgst“ es mit Deinen Blicken und Beruhigungsversuchen. Schaue, wann Dein Baby Abstand signalisiert (z.B. durch das Wegdrehen des Köpfchens) und versuche dann selbst, etwas Abstand zu nehmen und zu warten. Versuche, mehr zu fühlen, als zu denken. Es liegt nicht alles an Dir. Es ist auch das Baby, das die Kommunikation mitgestaltet.

Über die schwierige Interaktion zwischen Vater und Kind bzw. Mutter und Kind schreiben auch die finnischen Autoren Hannele Räihä und Kollegen der Universität Turku.

Windelfrei – Elimination Communication als Idee

Hier vielleicht noch eine Denk-Anregung: Studien haben gezeigt, dass das Tragen des Babys und eine relativ frühe Reaktion auf die Äußerungen des Babys das Schreien reduzieren kann (Urs A. Hunziker und Ronald G. Barr, 1986). Das exzessive Schreien wird zudem oft mit den „Dreimonatskoliken“ in Verbindung gebracht: Das Baby streckt sich, verkrampft sich, schreit und möchte sich offensichtlich entleeren, aber hat keinen Erfolg. Befürworter der windelfreien Babyzeit sagen, dass Babys einfach nicht ihr Nest beschmutzen möchten.

Wenn Du von Anfang an darauf achtest, wann sich Dein Baby entleeren möchte (Elimination Communication), lernst Du es besser kennen. Stress und Alleinsein machen es häufig schwierig, offen für diese Art der Kommunikation zu sein. Doch vielleicht kannst Du hier positive Rückkopplungserfahrungen mit Deinem Baby machen. Und falls nicht: Lass Dich nicht entmutigen. Mit der Zeit wird die Kommunikation besser werden. Weitere Informationen findest Du auf der Website der Ärztin Sarah Buckley.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 30.5.2015
Aktualisiert am 1.9.2023

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