Regeln – das Allheilmittel in der Erziehung? „Ich nehme dir das Handy weg und Nein heisst Nein!“

Wenn ich einen Vortrag zu ADHS halte, muss das Wort „Regeln“ direkt am Anfang fallen. Sonst werden Eltern und Lehrer gleichsam unruhig. Mir scheint manchmal, dass die Erwachsenen sich an den Regeln, die sie den Kindern aufstellen, festhalten wie Ertrinkende an einem Strohhalm. Warum sind Regeln so furchtbar wichtig (für die Erwachsenen)?

„Aber ein Kind ist ohne Regeln doch wie ein Verlorener in der Wüste! Woran soll es sich denn halten? Kinder brauchen doch Strukturen!“, heißt es. Ja, auch. Das Problem ist nur, dass Regeln so „verkopft“ sind und oft dann zu Hilfe genommen werden, wenn die Emotionen anscheinend große Angst bereiten. Das Kind jedoch, von Grenzen getrieben, weiß bald überhaupt nicht mehr, wohin. Doch was sonst außer Regeln könnte den Alltag mit Kindern regeln?

Wenn es gut geht, haben Kinder in der Regel genug Regeln: Um halb sieben klingelt der Wecker, dann gibt’s Frühstück, dann geht’s in die Kita oder in die Schule. Um Eins gibt’s Essen, Ausruhzeit, Hausaufgaben, Spielen. Wenn ein Kind bei einem Erwachsenen zu weit geht, dann verärgert es den Erwachsenen. Der Erwachsene schaut traurig, wütend und enttäuscht. Das ist die natürliche Konsequenz. Dem Kind tut es leid, es geht einen Schritt zurück. Das ist ein natürlicher Kreislauf, für den man keine Regel aufstellen muss.

Aber dieser gute Kreislauf funktioniert nur, wenn es eine gute Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen gibt. Nur, wenn der Erwachsene dem Kind etwas bedeutet, dann schmerzt es das Kind, wenn der Erwachsene zeigt, dass das Kind ihm wehgetan hat. Und hier ist der Knackpunkt: Wo es an Intensität und Zeit mangelt, um mit dem Kind eine tragfähige Beziehung aufzubauen, bauen die Erwachsenen sich Krücken aus Regeln.

Die Geschichte erforschen

Ein Kind schlägt immer wieder ein anderes Kind, obwohl die Regel heißt: „Hier wird nicht geschlagen.“ Wir zerren an diesem Kind herum und versuchen, es zur Vernunft zu bringen. Wenn man jedoch versucht, das Kind zu verstehen, dann kann es von sich aus aufhören, das andere Kind zu schlagen. Manchmal inszenieren Kinder vor den Augen der Lieblingskindergärtnerin das, was sie selbst zu Hause bewegt. Wenn die Erzieherin sehr gut geschult ist, Zeit hat und versucht, das Kind zu verstehen, finden die wütende Gefühle einen Platz „in der Kindergärtnerin“ sozusagen. Dann kann es aufhören, zu schlagen. Leider steht den Erzieherinnen in der Realtität dieser (Zeit-)Raum kaum zur Verfügung.

Klauen

Ich kannte mal ein Kind, das immer klaute. Es klaute Jogurt und Milch aus dem Kindergartenkühlschrank und Überraschungseier aus dem Supermarkt. Die Regeln und die Konsequenzen wurden immer weiter verschärft. Was jedoch niemand sah: Das Kind war ein Pflegekind und hatte zuvor Schreckliches erlebt. In der neuen Familie ging es ihm nicht viel besser. Das Kind stahl „Mütterlichkeit“ – bei näherem Hinsehen klaute es das, was es normalerweise von der Mutter bekommt: Milchprodukte. Es vermisste die Mutter so sehr, dass es dem nur Ausdruck verleihen konnte, indem es klaute. Dieses Kind erfuhr dann Mütterlichkeit bei einer Therapeutin, die sich ihm wirklich annahm. Sobald es „satt“ war, hörte es auf, zu klauen.

„Schwierige Kinder“ haben fast immer Probleme, die sich verstehen lassen. Fast immer haben sie einen Mangel an verstehender Beziehung. Das Kindergarten- und Schulsystem ist leider so gestrickt, dass den Lehrern und Erziehern leider kein Raum bleibt, um zu verstehen. „Ich bin doch kein Therapeut“, sagen manche zu Recht, denn sie sind überfordert, unterbezahlt und alleingelassen. Wie sollen sie das auch alles leisten, was sie eigentlich leisten könnten?

Das Prinzip verstehen

Eltern können sich fragen, ob die neue Regel nicht nur wieder einen neuen Reibungspunkt bietet. Jede neue Regel, die nicht befolgt wird, wird zum Streitpunkt, führt zu neuen Enttäuschungen und Schuldgefühlen. Wo man mehr Raum für Beziehung lässt, wird man schnell feststellen, dass unzählige Regeln schier überflüssig sind – denn Kinder, denen es gut geht, wollen einander helfen, sie wollen lernen, gesund bleiben, sich bewegen und gute Beziehungen führen. Indem man für Wohlgefühl und Verstehen sorgt, kann man die Regeln auf ein Minimum reduzieren.

Vorsicht mit dem Erziehungsmittel „Auszeit“

„Geh in dein Zimmer und komm erst wieder, wenn du dich beruhigt hast!“ So hieß es früher. Heute heißt es (etwas kontrollierter): „Setz dich für zwei Minuten auf die stille Treppe.“ Ein kleines Kind in einer verfahrenen Situation mit einer „Auszeit“ zu strafen, ist modern, aber oft nicht gut. Auch, wenn es Eltern und Kindern möglicherweise dazu dienen kann, sich zu beruhigen, sollte diese Methode nur mit Vorsicht angewendet werden. „Auszeit“ ist ein Begriff aus Erziehungsprogrammen wie dem TripleP.de (Positive Parenting Programme). Dabei trennen sich Bezugsperson und Kind für eine überschaubare Zeit, um jeweils wieder zu sich selbst zu finden.

Die Auszeit ist für viele Eltern und Kinder ein möglicher Ausweg aus einer wütenden Situation. Wenn Eltern jedoch Schwierigkeiten damit haben, ihre eigenen Gefühle mit Abstand anzuschauen, ist die Versuchung groß, mit der Auszeit als Strafe einfach die eigene Wut abzureagieren. Das Kind wird auf den Stuhl gesetzt und basta. Sind die Eltern sehr autoritätsgläubig, dann vertrauen sie dem Trainer des Elterntrainings mehr als ihren eigenen Gefühlen und wenden die Auszeit an, obwohl sich sich selbst überhaupt nicht wohl damit fühlen.

Trennung von der Bezugsperson als fragwürdige Strafe

Für das Kind selbst bedeutet die Auszeit, von der Bezugsperson getrennt zu sein. Besonders kleine Kinder können diese Trennung oft kaum verkraften. Die Auszeit mag helfen, dass sich Kind und Erwachsener tatsächlich beruhigen. Oft kommt es jedoch auch vor, dass das Kind in der Auszeit nur vordergründig ruhig wird. Innerlich ist es unruhig – es fühlt sich herabgesetzt, zurückgewiesen und gedemütigt. Seine innere Wut wächst.

Der „Erfolg“ ist nicht echt

So kann es passieren, dass hinter der Fassade des Erfolgs Wut und Verzweiflung des Kindes wachsen. Kommen solche Situationen öfter vor, wird das Kind immer öfter in aller Stille wütend. Es entwickelt eine chronische Wut, die die Beziehung zwischen Mutter („Mutter“ steht hier der Einfachheit halber für nahe Bezugspersonen) und Kind stört. Oft ist diese chronische Wut des Kindes auch nur ein Spiegelbild der Wut der Mutter.

Kleine Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen helfen, ihre Gefühle zu regulieren

Ist das Kind noch zu jung, um sich selbst beruhigen zu können, ist es mit der Auszeit absolut überfordert. Seine innere Not wird größer: Angst und Ohnmacht beherrschen nun das kleine Kind. Doch Gehorsam aus Angst ist kein guter Weg. Wer also die Auszeit anwendet, sollte das nicht gedankenlos tun und immer auf die eigenen Gefühle achten. Die gute Beziehung zum Kind und das gute Gefühl bei Mutter und Kind sollte immer Vorrang vor „Erziehungstipps“ haben.

Kinder sollte man nicht strafen

„Wenn Du das nicht sofort aufräumst, darfst du nicht das Sandmännchen schauen.“ Ich frage mich ja immer, wie sich Eltern Strafen ausdenken. Ich wäre da weder kreativ noch konsequent. Da ist ein Kind unausgeglichen, weil die Eltern sich nicht verstehen. Es fällt in der Schule auf und wird für seine „Dummheiten“ bestraft. Kaum jemand fragt, warum das Kind so ist, wie es ist.

Strafen ist einfacher als Verstehen. Strafen machen nicht nur die Kinder wütend, sondern auch die Eltern. „Wenn Du jetzt nicht hörst, gehen wir rein. Und wenn Du dann immer noch nicht hörst, bekommst Du drei Tage lang Spieleverbot.“ Natürlich wird ein Kind bei so etwas wütend. Eltern üben so leicht ihre Macht aus. Doch auch die Eltern können wütend werden durch ihre eigenen Strafen. Jeden Morgen müssen die Eltern, die die mehrtägige Strafe ausgesprochen haben, sich selbst wieder bestrafen. Sie müssen sich zur „Konsequenz“ zwingen. Sie dürfen nicht vergessen, was da gewesen ist – gestern, vorgestern und vorvorgestern. Die Wut wird konserviert wie in einem Kühlschrank.

Wenn man Kinder im Affekt anschreit, ist das Strafe genug. Das Kind sieht, dass der andere wütend wurde durch sein Tun.

Schmerzhafte Situationen sind selbst Strafe genug. Man muss da nicht noch eins draufsetzen. Die Kinder lieben die Eltern ja. Und sie sind abhängig von ihnen. Wenn die Bindung gut ist und das Kind sieht, dass es der Mutter oder dem Vater wehgetan hat, dann löst das einen Schmerz in ihm aus. Kinder wollen es von sich aus wiedergutmachen, wenn sie den anderen verletzt haben. Nichts fürchten Kinder mehr, als die Liebe der Eltern, Lehrer oder Freunde zu verlieren.

Macht über Kinder zu haben ist so leicht …

Die Macht der Eltern dient den Kindern meistens als Schutz: Die Eltern sind weiser, größer und stärker als die Kinder. Doch wie leicht kann diese Macht missbraucht werden. Zu groß ist die Versuchung, ein Kind einfach hochzuheben und es in sein Zimmer zu sperren, wenn wir als Eltern wütend sind. Wie leicht ist es, ein Kind anzuschreien und es damit einzuschüchtern. Für uns Eltern ist das zunächst eine schnelle Entlastung. Doch dann folgt das schlechte Gewissen.

Kinder sind uns Erwachsenen ausgeliefert. Sie sind abhängig von uns. Wenn wir sie anschreien, wegsperren, irgendwo hinzerren oder sie gar schlagen, dann ist das für das Kind eine Katastrophe. Nach unserem Wutausbruch ist das Kind zutiefst verletzt und verunsichert. Mag sein, dass es nach der Auseinandersetzung „zu sich gekommen“ ist. In Wirklichkeit ist es aber nur vordergründig brav – es benimmt sich gut, um die Eltern nicht erneut zu überfordern und um Strafe zu vermeiden. Es will sich nicht wieder so ohnmächtig fühlen, daher benimmt es sich aus Angst.

Es ist immens wichtig, dass sich Eltern bewusst sind, wieviel stärker sie im Vergleich zu ihren Kindern sind. Kinder „gehorchen“, wenn Eltern eine vertrauensvolle Bindung zu ihnen aufbauen. Sie respektieren ihre Grenzen, wenn ihre eigenen Grenzen respektiert werden.

Richtig dosieren

Wenn wir als Eltern wütend sind, dann ist es unsere Aufgabe, uns zu kontrollieren und nicht die ganze Dosis am Kind auszulassen. Es reichen oft schon eine deutliche Mimik und Worte wie: „Ich bin sauer, weil Du Dein Spielzeug hier rumliegen lässt. Mich stört das und ich möchte Dich bitten, es wegzuräumen.“ Häufig müssen wir als Eltern wiederholt unsere Grenzen aufzeigen, bis das Kind sie verinnerlicht hat.

„Lächerliche“ Wünsche respektieren

Wir sollten – wenn möglich – unverständliche Wünsche des Kindes nicht als lächerlich abtun. Beispielsweise können kleine Kinder so etwas sagen wie: „Ich möchte nicht, dass Du dasselbe Eis isst wie ich.“ So etwas erscheint uns Erwachsenen oft kindisch. Aber es ist die Art des Kindes zu sagen: „Hier möchte ich anders sein als Du.“

Wenn wir gut gelaunt sind und dann tatsächlich ein anderes Eis bestellen, macht das Kind die Erfahrung, wie schön es sich anfühlt, ernstgenommen zu werden. Später, wenn das Kind sich mit fünf oder sechs Jahren gut in andere hineinversetzen kann, dann möchte es bei einer guten Bindung ebenfalls, dass wir als Eltern dieses schöne Gefühl des Ernstgenommenwerdens spüren. Das heißt: Das Kind tut das, worum wir es bitten. Vieles von dem, was wir in der Kleinkindzeit wiederholt machen, trägt erst Früchte, wenn die Kinder älter sind. Wir brauchen Geduld.

„Ich nehm dir das Handy weg!“

„Ich nehm‘ Dir das Handy weg – und das iPad gleich mit. Bis Montag.“, sagt die Mutter. Kraftlos schaut sie ihr Kind an. Sie ist wütend und verzweifelt, weiß keine andere Lösung. Sie sorgt sich, dass ihr Kind abhängig werden könnte von diesem ganzen Zeug. Doch die Angst führt dazu, dass sie ihr Kind behandelt, wie sie einst selbst behandelt wurde: bei genauerem Hinsehen respektlos. Gleichzeitig erwartet sie, dass ihr Kind Respekt vor ihr hat. Und sieht in diesem Moment nicht, dass es keinen Respekt haben kann, weil es selbst nicht mit Respekt behandelt wird.

Je größer unser Ohnmachtsgefühl als Eltern, desto verzweifelter suchen wir nach etwas Machtvollem.

Anbieten

„Ja, aber das Kind ist doch kein kleiner Erwachsener. Es spielt ja tatsächlich den ganzen Nachmittag mit dem iPad, wenn man es ihm nicht wegnimmt.“ Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Kinder wollen lernen und mit anderen spielen; sie sind neugierig, wollen ein Instrument lernen, sich bewegen, Beziehungen mit anderen Menschen eingehen. Doch sind wir selbst zu kraftlos und vielleicht im Homeoffice gefangen – unsere Möglichkeiten scheinen erschöpft zu sein. Wir können unserem Kind gerade keine Alternativen mehr bieten. Doch vielleicht hilft uns der Gedanke, dass gesunde Kinder nur übergangsweise „abhängig“ zu sein scheinen von ihren Handys. Auch sie werden sich wieder Neuem zuwenden, wenn es neue Möglichkeiten und Gelegenheiten gibt.

Das Handy wegzunehmen scheint die einzige Lösung zu sein in einer auswegslosen Situation. Dabei wäre es besser, man fügte etwas hinzu, als nähme man etwas weg. Was macht denn das Kind mit dem Handy? Es stellt Kontakte her. Und es könnte uns ganz wunderbare Dinge zeigen, über die wir staunten, wenn wir einmal schauten.

Manchmal erscheint es uns fast unmöglich, unser Kind ein Instrument erlernen zu lassen, besonders, wenn es finanziell knapp ist. Wir Eltern müssen zudem oft so viel arbeiten, dass wir keine Kraft mehr haben, unserem Kind mit Interesse zu begegnen und ihm etwas Interessantes zu zeigen.

„Was machst Du da?“, ist oft eher eine vorwurfsvolle als eine neugierige Frage. Doch wenn wir uns einmal einlassen und uns für die Welt unseres Kindes interessieren, können wir erstaunt sein, wieviel da zurückkommt. Das Handy wegzunehmen ist einfach. Kraft kostet es hingegen, dem Kind etwas anderes anzubieten. „Der will ja nichts anderes“, heißt es dann. Denkt man. Aber es ist oft so anders. Wenn jetzt interessanter Besuch käme oder ein Bach mit klarem Wasser vor der Tür läge, wäre das wahrscheinlich auch heute noch viel interessanter für das Kind als das Handy.

Stellen wir uns vor, jemand käme, um uns zu behandeln, wie wir die Kinder behandeln: „Ich nehme Dir den Laptop weg – Du hängst sonst zu viel davor und wirst zu dick.“ – „Jetzt aber! … Eins, zwei …? Freundchen/Frollein!“ Welcher Erwachsene würde sich das nicht verbitten? Kinder verbitten sich das auch. Aber wir Erwachsenen übergehen es. Doch wenn wir unsere KInder ebenso respektvoll behandeln wie Erwachsene, können wir erstaunt sein, was da alles Wunderbares zurückkommt.

Manchmal nicht gleich, aber oft Jahre später. Wir müssen im Hinterkopf behalten, dass es Kinder sind mit hochinteressanten Welten. Darum agieren sie anders als Erwachsene. Aber mit dem Respekt, denen wir ihnen entgegenbringen, bringen wir gleichzeitig uns selbst Respekt entgegen – weil wir auf Dauer selbst respektvoller behandelt werden und weniger unter Schuldgefühlen leiden.

Wenn-dann-Sätze machen vieles schlimmer

„Wenn Du heute lieb bist, dann darfst Du heute Abend fernsehen.“ „Wenn-dann-Sätze“ kommen vielen Eltern nur allzu leicht über die Lippen. Viele von uns sind selbst damit groß geworden. Heute hören wir überall, dass Kinder „Konsequenzen lernen“ müssen.

Wir glauben allzu oft, dass unsere Kinder mit konsequenten „Wenn-dann-Sätzen“ Konsequenz lernen. Doch Konsequenz lernen die Kinder von ganz alleine schon im alltäglichen Leben. Dazu gehören etwa solche Zusammenhänge: „Wenn die Wolken am Himmel stehen, dann gibt es gleich Regen.“ Oder: „Wenn die Mama so ein Gesicht aufsetzt, dann wird sie gleich schimpfen.“ Konsequenz lernen die Kinder überall.

Viele Mütter leiden regelrecht darunter, weil sie sich nicht so konsequent fühlen, wie sie es doch laut Lehrbuch und Ratgeber sein müssten. Doch ich glaube, viele Mütter belasten sich dadurch unnötig. Denn wie fühlt sich ein Kind, wenn man ihm sagt: „Wenn Du heute lieb bist, darfst Du am Abend Deinen Lieblingsfilm sehen“? Versteckte Wut ist bei vielen Kindern die Reaktion.

Kleine Kinder leben im Hier und Jetzt, gerade das lieben wir ja so oft an ihnen und gerade dafür bewundern wir sie. Einen Zeitraum bis zum Abend zu überblicken, fällt ihnen sehr schwer. Und was heißt denn „Liebsein“? Wenn Kinder neugierig sind und die Welt entdecken, dann tun sie manchmal Dinge, die die Eltern eben als „nicht-lieb“ bezeichnen würden. Vor allem aber ist der Tag belastet. Das Kind kann den Tag nicht mehr unbeschwert gestalten, denn es passt die ganze Zeit auf. Die Chance, zu „versagen“, ist groß.

Und was lesen die Eltern derweil im nächsten Psychologiebuch? „Es ist wichtig, die Kinder bedingungslos zu lieben.“ Abgesehen davon, dass das oft eine wünschenswerte, aber unrealistische Forderung ist, geben wir dem Kind mit unserem „Wenn-dann-Satz“ zu verstehen, dass wir es lieben, wenn es die Bedingung „Liebsein“ erfüllt. Denn für das Kind ist es ein Zeichen der Liebe, wenn wir ihm erlauben, einen Film zu gucken, wenn wir ihm etwas kaufen oder ihm einen anderen Wunsch erfüllen.

Wir Erwachsenen sehen das manchmal anders. Wir sagen: „Auch, wenn Du jetzt nicht bekommst, was Du willst, haben wir dich lieb.“ Richtig, auch das kann ein Kind lernen: dass es geliebt wird, auch, wenn die Eltern nicht so handeln, wie es sich das selbst wünscht. Aber in der Regel leben die kleinen Kinder noch in einer sehr konkreten Welt. Aus Sicht der Kinder ist die Wunscherfüllung eben oft ein Liebesbeweis. Die Folge von „Wenn-dann-Sätzen“ ist doch oft, dass die Mutter mit sich unzufrieden wird, weil sie „mal wieder“ nicht konsequent war.

Das Kind wiederum fühlt sich möglicherweise nicht „bedingungslos geliebt“. Das Kind schafft es nicht, den ganzen Tag „lieb“ zu sein und fühlt sich als Versager. Oder es fühlt sich wie in einer unberechenbaren Welt, weil die Eltern unter Liebsein etwas anderes verstehen als es selbst. Wer von uns Erwachsenen schafft es denn schon, bis zum Abend „lieb“ zu sein? In der Hektik nicht einmal dem anderen schnell eine Parklücke wegzunehmen oder die Mutter des anderen Kindes nicht mal eben mit einer Notlüge abzuwimmeln? „Wenn-dann-Sätze“ kann man hier und da anwenden. Doch es ist wichtig, kurz einmal innezuhalten und nachzudenken, warum wir diese Sätze sagen und wie wir das tun. Wir können viel öfter auf „Wenn-dann-Sätze“ verzichten als wir glauben.

Respektvolle Beziehung: „Aber Kinder sind doch keine kleinen Erwachsenen!“

Wann immer es um respektvolle „Erziehung“ von – oder besser: Beziehung zu – Kindern geht, kommt rasch der Spruch: „Aber Kinder sind doch keine kleinen Erwachsenen!“ Dieser Satz hat mich von jeher irritiert. Es ist eine Frage der Haltung: Ich finde es wichtig, mit Kindern so umzugehen wie mit Erwachsenen auch, jedoch unter der Berücksichtigung, dass es eben noch Kinder sind. Wenn ein Kind mich fragt, warum der Himmel blau ist, kann ich nicht mit ausgefeilten physikalischen Berechnungen daher kommen, sondern muss es in kindgerechte Worte fassen. Aber ich erkläre es ihm so, dass es sich ernstgenommen fühlt.

Unsere Kinder können uns emotional bis aufs Blut herausfordern. Doch wir können wieder zur Mitte zurückfinden. Es ist wichtig, mit Kindern nur so zu sprechen, wie wir als Erwachsene es auch akzeptieren würden. „Du kommst jetzt ganz schnell weg da! Eins, zwei,…?! Ein bisschen plötzlich, Frollein!“ Wie würden wir reagieren, wenn unser Partner so mit uns spräche? So einen Partner würden wir – wenn wir nicht gerade masochistisch sind – wahrscheinlich bald verlassen.

„Schaust du mich bitte an?“

In der Regel nehmen wir es hin, wenn uns ein anderer Erwachsener gerade nicht anschauen kann. Viele Eltern gehen jedoch mit ihren Kindern ganz anders um. Sie fordern sie eindringlich immer wieder auf: „Guckst du mich bitte an? Haben wir uns verstanden?“ Über die Maßen zwingen sie das Kind dazu, sie anzuschauen. Das Kind ist ohnmächtig – was soll es anderes tun, als zu gehorchen? Wer einmal genau beobachtet, wie erniedrigt sich ein Kind in so einer Situation fühlt, wird wahrscheinlich vorsichtiger mit seiner Aufforderung sein. Auch Kinder haben ein Recht darauf, ihre Eltern nicht anzuschauen.

Erwartungen

Kinder wollen wie jeder Mensch behandelt werden – mit Respekt und Verständnis. Auch wenn wir wütend auf unser Kind sind, können wir respektvoll mit ihm sprechen: „Ich bin müde! Den ganzen Tag habe ich aufgeräumt. Und wenn ich hier über Deine Spielsachen falle, macht mich das wirklich wahnsinnig.“ Und jetzt kommt der spannende Punkt: Können wir damit rechnen, dass ein Kind darauf reagiert? Ja! Und zwar dann, wenn wir uns immer um eine gute Bindung bemüht haben. Wenn wir für das Kind zeitlich ausreichend zur Verfügung stehen. Wenn das Kind uns kennt, dann will es nichts mehr, als dass wir ihm wohlgesonnen sind. Ein Kind will, dass wir es lieben und es will die Liebe der Eltern nicht verlieren. Hier können wir eine Reaktion erwarten wie von Erwachsenen auch: Das Kind wird bemüht sein, in irgendeiner (altersangemessenen Form) auf uns zuzugehen.

Das Gefühl, bei unseren Kindern irgendetwas falsch gemacht zu haben, ist schrecklich. Manche Eltern sind von ihren eigenen Taten traumatisiert. Die Scham hält viele davon ab, Hilfe zu suchen. Doch oft hilft es dem Kind am meisten, wenn die Mutter/der Vater Entlastung finden.

Das Kind reagiert auf uns, wenn wir eine gute Bindung haben

Wenn wir eine gute Bindung zum Kind haben, dann wird es weinen, wenn wir sagen, dass wir wütend geworden sind. Wenn wir ihm zeigen, dass es unsere Grenzen übertreten hat, wird es das spüren und daraus lernen. Unsere Worte kommen bei unserem Kind an. Wenn wir es aber überwiegend respektlos behandeln und unsere Macht ausnutzen, dann wird es nicht unmittelbar auf uns reagieren, sondern sich uns widersetzen.

„Ja, aber wenn ich konsequent bin, dann fühlt es sich doch geborgen, oder?“ Auch hier kommt es wieder auf die innere Haltung an. Es fühlt sich geborgen, wenn der Erwachsene sich tatsächlich erwachsen fühlt, wenn er eine innere Haltung hat, wenn er gelassen umsetzen kann, was er für richtig hält, wenn er dem Kind zeigt, was „richtig“ und „falsch“ ist in dem Wissen, dass jedes Kind auch ein Präkonzept von „richtig und falsch“ in sich trägt.

Konsequenz

Manche Eltern sagen: „Ich dachte hinterher: Drei Tage Fernsehverbot ist echt ein bisschen viel, aber nun hatte ich’s gesagt, nun muss ich es auch durchziehen um der Konsequenz willen.“ Hier wird’s wieder fraglich. Ich würde nicht wollen, dass mir jemand drei Tage lang das Fernsehen verbietet. Mit welchem Recht sollte er das tun? Und wenn sich jemand geirrt hat und in der Wut etwas gesagt hat, was er nicht so meint, freue ich mich über eine Entschuldigung. Aus der Angst heraus, nicht respektiert zu werden, tun viele Erwachsene lauter Dinge in einer Weise, die das Kind dazu bringt, sie erst recht nicht mehr zu akzeptieren.

So geraten die Erwachsenen in einen Teufelskreis. Am natürlichsten geht es, wenn man sich selbst fragt: „Wie würde ich mich fühlen? Mein Wille ist mein Himmelreich. Der Wille meines Kindes ist auch sein Himmelreich. Mein Körper gehört mir. Und auch der Körper des Kindes gehört dem Kind. Wie kann ich da so mit ihm umgehen, dass es ihm gut geht?“ Die meisten Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Kaum über etwas wird mehr diskutiert als über die „richtige Erziehung“. Vieles wird leichter, wenn wir die Erziehung beiseite kasseb und uns um eine gute Beziehung bemühen.

„Eins, zwei, drei …!“ Warum zählen so viele Eltern?

„Warum zählen so viele Eltern immerzu bis Drei?“, fragte ich auf Twitter. Die Antwort einer Mutter: „Weil’s funktioniert.“ Ich stelle mir vor, mein Partner würde mich bitten, ihm Kaffee mitzubringen und dann sagen: „Aber ganz schnell! Eins, zweeeiiii …“ Kinder sind zwar nicht erwachsen, aber sie wollen mit demselben Respekt behandelt werden wie Erwachsene. „Eins, zweeeiii …“, sagt die Mutter. „Okay“, sagt das kleine Kind und tut, was die Mutter will. Die Mutter freut sich. Ihr Kind „tanzt ihr nicht auf der Nase herum“. Was aber nur der Außenstehende sieht: In ihrem Kind wächst eine Pflanze der Wut. Natürlich gehorcht das Kind, was soll es auch anderes tun? Es weiß, dass Strafen folgen, wenn es bei Zwei nicht reagiert. Also wählt das Kind das kleinere Übel.

Am Anfang kann ein Kind nur nehmen. Es kann Respekt empfangen. Später wird es den Respekt zurück geben. Wenn Eltern aber zählen, zeigen sie dem Kind: „Ich bin mächtig, Du bist ohnmächtig.“

Eine Pflanze der Wut wird genährt

Jedes Mal, wenn Eltern in dieser Weise zählen, wächst im Kind ein Stückchen Wut. Die Mutter kann diese Wut kaum wahrnehmen, denn ihre Befriedigung und Erleichterung sind groß. Doch dieses Zusammenspiel zwischen Mutter und Kind findet Tausende Male statt. Das Kind „gehorcht“, insgeheim wütend, um Schlimmeres zu verhindern. Mit dem EinsZweiDrei wird ein Beziehungsmuster geflochten, unter dem viele Erwachsene noch zu leiden haben. Es ist oft unbewusst geworden – meistens sagen wir dann: „Komisch, und ich tu auch noch, was der mir sagt!“

„Ja, aber im Alltag geht es nun mal nicht anders“, sagt eine Mutter. Wie kommt so eine Überzeugung zustande? Warum glauben Eltern, es ginge nicht anders?

Warten, Beobachten, Verstehen statt Zählen

Das Leben ist nicht leicht und wir haben nicht immer die Zeit, so zu handeln, wie es gut wäre. Aber oft haben wir dennoch die Möglichkeit, es anders zu machen. Die Lösung besteht in ruhigen Momenten darin, das Kind genau zu beobachten, einmal zu warten und es zu verstehen. Manchmal sieht es unsinnig aus, wenn wir unser Kind um etwas bitten und es das nicht sofort tut. Doch Kinder sind innerlich langsam – sie brauchen Zeit. Sie wollen ihre Sache noch beenden, Gedachtes zu Ende denken, die Konsequenzen des Lebens selbst entdecken.

Manchmal haben Kinder auch etwas Sinnvolles vor, das wir nur erkennen, wenn wir warten: Genau dieses Kind, das scheinbar nicht auf seine Mutter hörte, als sie es rief, wollte einfach noch schnell seine Schuhe holen, die die Mutter vergessen hatte. „Ach ja, gut, dass du daran gedacht hast!“ Warten heißt: das Kind verstehen lernen.

Frollein! Freundchen!

„Freundchen, pass bloß auf! Und Frollein, wenn Du jetzt nicht hörst …!“, klingt es drohend am Sandkasten. Viele Mütter und Väter sprechen mit ihren Kindern so, wie mit ihnen selbst gesprochen wurde – in einer verachtenden Weise. Es fällt uns oft gar nicht auf, weil wir es von unseren Vätern und Müttern kennen. Wie sie uns angesprochen haben, ist fest in uns verankert. Wenn es uns bewusst wird, müssen wir es nicht länger wiederholen.

Nein heisst Nein!

„Nein heißt Nein!“ Wie oft höre ich Eltern diesen Satz sagen. Da gibt es nichts zu diskutieren. Fragt das Kind, warum, heißt es: „Weil ich es sage.“ Die Eltern fürchten sich oft davor, die Autorität zu verlieren oder davor, dass ihr Kind sie nicht ernst nimmt. Diese Angst kann so groß werden, dass manche Eltern regelrecht herrschsüchtig werden. „Zieh die Mütze auf!“, sagt die Mutter. „Nein!“, sagt das Kind. Es friert nicht. Die Mütze juckt, sie stört, sie ist zu warm. Sie rutscht immer runter. Kein Erwachsener würde diese Mütze tragen. „Du ziehst jetzt sofort die Mütze auf!“, lautet die Antwort. Dabei dachte ich: „Nein heißt Nein!?“ Warum soll das nur beim Erwachsenen gelten?

Warum soll man dem Kind nicht die Mütze aufsetzen, wenn es „Nein“ sagt? Einfach, weil das Kind es so sagt und will. Wenn die Eltern dem Kind gegenüber mit Respekt entgegentreten, dann wird es auch umgekehrt so sein. Man kann ja noch anfügen: „Ich habe Angst, dass du dich sonst erkältest – sag‘ bitte Bescheid, wenn es dir zu kalt wird.“ So entwickelt das Kind keine Wut, weil es nicht gezwungen wird, etwas mit seinem Körper zu machen, was es nicht will. Da ist dann ein gesunder Spielraum zwischen Eltern und Kind. So können Eltern und Kind gegenseitig das „Nein“ des anderen respektieren.

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Heidi Simoni:
Wie erleben und verstehen kleine Kinder Strafen?
Zeitschrift „undKinder“ Nr. 80, Dezember 2007: 31–37

Thomas Gordon:
Die neue Familienkonferenz.
Kinder erziehen ohne zu strafen.
Heyne Verlag, München 2007

Dieser Artikel erschien erstmals am 13.11.2013
Aktualisiert am 12.12.2020

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