Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Schweigen und Zuhören lernen
„Psychoanalytiker werden dafür bezahlt, dass sie nichts sagen“, heißt es. „Manchmal frage ich mich, warum ich dahin gehe – der sagt ja gar nichts“, sagt ein Patient. „Sie können das Schweigen nicht aushalten“, sagt der Supervisor. „Ich bin so froh, dass Sie gerade nichts sagen“, sagt eine Analysandin tief berührt. Schweigen und dem Schweigen ausgesetzt zu sein, ist immer anders.
Es gibt gelangweiltes, interessiertes, haltendes, nachdenkliches, beschwingtes, friedliches Schweigen und viele Arten mehr. Manchmal ist vom Analytiker oder vom Patienten rein gar nichts zu hören. Manchmal hört man, wie sich einer der beiden über Pulli, Hose oder Gesicht streicht. Einen Augenblick später hört man den Atem.
Oft ist der schweigende Psychoanalytiker im Zustand der „freischwebenden Aufmerksamkeit“. Die Psychoanalytikerin Evelyne Sechaud beschreibt, was dann passiert (Konferenz der Europäischen Psychoanalytische Föderation, EPF 2015): „Dieses Schweigen ist ein Schweigen des Sich-Öffnens für das Unerwartete, ja, für das Unbekannte. Es geht darum, sich von dem, was der Patient sagt, von allem, was vom Patienten kommt, durchdringen zu lassen. Dies schließt Worte ein, Sprachhandeln (Anmerkung Voos: z.B. Beschimpfung), Stimme, Affekte, körperliche Eindrücke, all diese anziehenden, verführerischen und/oder abstoßenden Aspekte. Das Schweigen ermöglicht es dem Analytiker, dem Strom der Assoziationen über die Umwege des Gesagten nachzuspüren, die Vorstellungen und Affekte zu entwirren und sie in ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen Konstruktionen neu zu verbinden.“ (Sechaud, Evelyne, EPF 2015)
Unwohlsein beim Schweigen
Schweigen kann einen Patienten oder Analytiker in Spannung versetzen. Es ist für viele gerade am Anfang der Analyse ungewohnt, schweigend beieinander zu sein. Ungewollte Phantasien können sich im Schweigen breit machen. Manchmal kann das Schweigen unerträglich werden. Doch im Grunde kann man sich darauf verlassen, dass das Störende und Ungewollte, dass einem in der Analyse einfällt, sinnvoll ist und mit der Beziehung zu sich selbst, zum Therapeuten und zur Welt zu tun hat. Es erfordert oft viel Mut, die Gedanken der Stille nicht wegzuwischen, sondern sie ernstzunehmen, sie vielleicht auszusprechen oder innerlich zur Weiterarbeit zu nutzen.
Als Patient können wir das Schweigen besonders dann als problematisch erleben, wenn wir zum Beispiel eine „stumme“, depressive Mutter hatten oder wenn wir durch Schweigen gestraft wurden. Wir fühlen uns vielleicht sogar so, wie wir uns als Baby fühlten, wenn uns die Mutter stundenlang schreien liess. Vielleicht entstehen in den Schweigeminuten aber auch erotische Spannungen oder gewaltsame Phantasien. Im Schweigen kann sich das Unbewusste breitmachen. Die Realität rückt in die Ferne, die Phantasien blühen auf.
Sich im Schweigen verstanden fühlen
Wenn der Analytiker schweigt, ist er meistens dennoch präsent. Der Patient kann das häufig spüren und fühlt sich dabei vielleicht gehalten. Oft ist der Patient auch erleichtert, dass der Analytiker gerade jetzt nichts sagt – zu sehr sind die Gefühle oder Erinnerungen so, dass jedes Wort die Situation nur zerstören würde. Durch das Schweigen kann man sich als Patient zutiefst verstanden fühlen. Das Schweigen kann jedoch auch wütend machen. Der Analytiker kann das Schweigen dosieren und es dazu nutzen, dass sich ein Gefühl oder eine Szene breit macht, die dann gespürt, beobachtet, begriffen und verstanden werden kann.
„Der Rest ist Schweigen.“ Die letzten Worte Hamlets vor seinem Tod.
Aktives Schweigen
Das Schweigen des Analytikers kann passiv und hilflos, jedoch durchaus auch aktiv und produktiv sein. Der Psychoanalytiker Jannis S. Kontos (DPV) setzt in einem speziellen Sinne „aktives Schweigen“ bei „lebend-toten Patienten“ ein (EFP-Konferenz 2015, S. 89 ff). Er schreibt:
„Was wir in der Analyse beabsichtigen, ist die mütterliche emotionale Abwesenheit präsent werden zu lassen. … Ziel ist, die Patienten den namenlosen Terror wieder erleben zu lassen, so dass er Name, Inhalt und Sinn bekommen kann. … Das Schweigen ist in dem Sinne aktiv, wie Bion (1970) die aktive Haltung „without memory and desire“ beschreibt. … Diese Abwesenheit von Worten darf jedoch nicht als fehlgeschlagene Kommunikation missverstanden werden. Vielmehr könnte man diese spezifische Form des Schweigens als ein Übergangsphänomen bezeichnen, als eine Art von Zufluchtsort vor dem unerträglichen Andrang der Fantasie … (Gellman 2012) … Man könnte also sagen, die Zeit der Stille repräsentiert … eine Zeit, die beiden … eine Atem- bzw. Erholungspause gewährt von der bisweilen besorgniserregenden Nähe und unerbittlichen Intimität im Rahmen des analytischen Settings. … Das aktive Schweigen des Analytikers bedeutet für diese Patientinnen seine emotionale Abwesenheit. Sie ist durch die unaufhörlichen psychischen Schmerzen präsent, welche diese emotionale Abwesenheit verursacht. Anders ausgedrückt, wenn in der Übertragung der psychische Schmerz und der namenlose Terror durch die ‚Abwesenheit‘ des Analytikers vorherrschen, dann wird seine Abwesenheit präsent und erst dann … ist das Wiederaufleben des archaischen Traumas möglich (S. 91).“
Antonio Maria Ferro (IPA) war von 2013-2017 Präsident der Italienischen Psychoanalytischen Vereinigung (Societa Psicoanalitica Italiana, SPI). Der Karnac-Verlag hat ihn gefragt, welchen Rat er angehenden Psychoanalytikern geben könnte. Er empfiehlt, „das gründlichste und langwierigste Training zu durchlaufen, das möglich ist, und sich dabei die eigene Kreativität zu bewahren“: What advice would you give to young would-be analysts/therapists? „To go through the most rigorous and lengthy training possible but to keep their own creativity alive.“ Karnac Review, Summer 2017
Das intensive Zuhören zu erlernen, ist sicher eine der größten Herausforderungen in der psychothearpeutischen Ausbildung. Der amerikanische Psychoanalytiker Lewis Aron (1952-2019) hat in einem wunderbaren Zitat zusammengefasst, worum es in der Psychoanalyse geht (2009, frei übersetzt von Voos): „Das ist es, was Psychoanalyse ist. Das ist es, was wir anbieten: Wir hören den Menschen ganz genau zu, über eine lange Zeit und mit einer großen Intensität. Wir hören auf das, was sie sagen und auf das, was sie nicht sagen; auf das, was sie in Worten sagen und jenes, was sie mit ihren Körpern und ihren Handlungen ausdrücken. Und wir hören ihnen zu, indem wir uns selbst zuhören – wir achten auf unsere Psyche, unsere Träumereien und unsere körperlichen Reaktionen.“
Und weiter: „Psychoanalyse ist Tiefenpsychologie – das heißt, wir hören in die Tiefe und lehren unsere Schüler das Zuhören. Was immer auch die moderne Medizin mit ihren Steuerungssystemen sagt, welche Medikamente auch immer verschrieben werden und was auch immer die Forschung herausfinden mag: Die Menschen wollen, dass man ihnen tief zuhört und sie werden es immer wollen. Daher wird es immer Patienten geben, die ein psychoanalytisches Vorgehen suchen und brauchen. Und es wird immer Therapeuten geben, die die Psychoanalyse erlernen wollen.
(Original, Aron, 2009:) „That is what psychoanalysis is. That is what we offer: We listen to people in depth, over an extended period of time and with great intensity. We listen to what they say and to what they don’t say; to what they say in words and to what they say through their bodies and enactments. And we listen to them by listening to ourselves, to our minds, our reveries, and our own bodily reactions. … Psychoanalysis is a depth psychology, which means that we listen in depth and teach our students to listen. Whatever managed care says, and whatever drugs are prescribed, and whatever the research findings, people still want to be listened to in depth and always will. That’s why there will always be patients who want and need an analytic approach and why there will always be therapists who need to learn it.“
Körperliches Wohlbefinden hilft beim Zuhören
Es ist relativ leicht, gut zuzuhören, wenn man ausgeschlafen und in einer körperlich guten Verfassung ist. Daher leben viele Psychoanalytiker sehr gesund – manche erlernen auch Meditationstechniken, um sich besser vertiefen zu können. Es gibt jedoch immer wieder Phasen im Leben, in denen es uns als Therapeuten nicht gut geht. Dann werden wir vielleicht häufiger von unseren Gefühlen übermannt oder wir können uns auf den Patienten nicht so gut einstellen. Doch wir können im Laufe der Zeit zu unserer Mitte zurückfinden, insbesondere dann, wenn wir unsere eigenen Traumata und Konflikte in der Lehranalyse bearbeiten. Du fühlst vielleicht das Bestreben, die eigenen Gefühle mit ruhigem Interesse zu beobachten und nachzudenken, auch, wenn es bei Weitem nicht immer geht.
Relativ wenige Patienten zu behandeln, ermöglicht aus meiner Sicht oft ein zufriedeneres Arbeiten, weil es das Zuhören erleichtert – denn wir haben immer auch eine individuelle oder tagesformabhängige Zeitspanne, in der wir gut zuhören können. Mit der Zeit wirst Du jedoch wahrscheinlich immer besser darin, Deinen meditativen, interessierten Zustand beizubehalten, auch wenn es hoch her geht oder wenn Gefühle der Lähmung auftauchen.
Zuhören heißt: innerlich arbeiten
Du kannst das Gesagte und das Geschehen in der Stunde mitunter behandeln wie einen Traum. Du kannst das Gesagte in Deine Theorien und in die Lebensgeschichte des Patienten einbetten, Du kannst Dich berühren lassen, Deinen inneren Bildern folgen und den Drang spüren, wenn es wichtig wird, etwas zu sagen. Du kannst dann weiter schweigen oder Dich zur Deutung entscheiden. Es kann wichtig sein, Dich von bestimmten Wellen des Patienten nicht zu sehr beeindrucken zu lassen (jedoch nicht im Sinne der Vojtatherapie, bei der man das Schreien des Babys „überhören“ oder als gewollt ansehen soll). Du spürst vielleicht immer mehr, wie Du mit Deinem Patienten mitleiden und mitfühlen kannst, weil Dir das Leid in sehr ähnlicher Weise bekannt ist. Das kann auf beide heilend wirken.
Zuerst einmal aber brauchst Du gute Ohren und einen guten Ohrenarzt.
Im Flow
Dein Zuhören ist ein aktives Geschehen. Wenn es geht, kannst Du Dich einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit hingeben, was mitunter an einen tranceartigen Zustand erinnert. Das Zuhören kann dabei mühelos sein. Es kann aber auch langweilig sein, oder es kann Dich aggressiv und ungeduldig machen. Es kann freudig sein und vieles mehr. Wenn sich das Aversive breit macht, kannst Du versuchen, das Aversive innerlich genau zu beschreiben: Wie fühlt sich das an? Und warum ist „es“ so aversiv? Vielleicht willst Du innerlich weglaufen, vielleicht sagst Du etwas, um Dich zu entlasten. Vielleicht gelingt es Dir aber auch, „da“ zu bleiben und Dein inneres Weglaufen zu beobachten. Vielleicht kannst Du die Einstellung gewinnen, das Aversive mit Neugier zu erforschen.
All das und noch viel mehr geschieht im Zuhören. Es ist eine innere Arbeit, die der Patient mitunter gut spüren kann. Je länger Du diese Arbeit machst, desto geschulter wirst Du darin. Sobald Deine Fähigkeit zum Zuhören aufgrund von Krankheiten oder Alter vielleicht spürbar abnimmt, bemerkst Du das auch. Vielleicht bedauerst Du das dann, aber vielleicht wendest Du Dich irgendwann auch gerne wieder von der Aufgabe des „Zuhören-Müssens“ ab, um Dich um Dich selbst zu kümmern.
Die vier Arten des psychoanalytischen Zuhörens
Der Psychoanalytiker Salman Akhtar beschreibt vier Arten des Zuhörens in der Psychoanalyse: das objektive, das subjektive, das intersubjektive und das empathische Zuhören. Psychoanalytic Listening, Routledge 2012.
- Objektives Zuhören: Hier hält der Analytiker skeptisch Abstand zu dem Gesagten und fragt sich, was realistisch und unrealistisch ist.
- Subjektives Zuhören: Hier versteht der Analytiker den Patienten aus seiner eigenen subjektiven Warte.
- Empathisches Zuhören: Der Analytiker begibt sich in die innere Welt des Patienten und folgt dem Gesagten von dort aus.
- Intersubjektives Zuhören: Hier achtet der Analytiker auf das „Psychoanalytische Dritte“, das geschaffen wird, indem sich Analytiker und Patient gegenseitig beeinflussen und Gesagtes formen. Damit ist das gemeinsame Verstehen gemeint.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Links:
Raul Paramo-Ortega (1967):
Einige Bemerkungen über das Schweigen des Analytikers
Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie
1967, Jg. 15, H. 3/4 S. 247-252 PDF
Sechaud, Evelyne:
Das Schweigen des Psychoanalytikers
EPF-Konferenz 2015: S. 71-74
www.epf-fep.eu
Sechaud, Evelyne (2018):
The silence of the psychoanalyst
In Revue francaise de psychanalyse Volume 82, Issue 1, 2018, pages 89 to 97
www.cairn-int.info/…
Lewis Aron and Karen Starr:
A Psychotherapy for the People.
Toward a Progressive Psychoanalysis
Routledge, Taylor&Francis Group
„sie schreien es hinaus, indem sie schweigen“
„cum tacent, clamant“
cicero: In Catilinam oratui 1,21
hubertus kudla: lexikon der lateinischen zitate, zitat 2532, verlag c.h. beck, ohne datum
Dieser Beitrag erschien erstmals am 13.5.2014
Aktualisiert am 9.9.2024
One thought on “Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Schweigen und Zuhören lernen”
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Wenn sich da die ganze Therapeutenriege mal nicht in was verrannt hält, wenn sie das Schweigen weiterhin für sich berechtigen, während Patienten das oft ganz anders erleben. Nehmt deren Rückmeldungen dazu ernst, die feinste Begründungstheorie bringt nichts, wenn sie in der Praxis kontraproduktiv wirkt. Und das tut sie in – meiner Erfahrung nach mit den Rückmeldungen, die ich erfuhr – häufig.