Buchtipp: Richard Reichbart: Anatomy of a Psychotic Experience (Anatomie einer psychotischen Erfahrung)

Der Jurist und Psychoanalytiker Richard Reichbart (IPA) ist einer der wenigen Psychoanalytiker, die sich mit dem Paranormalen beschäftigen. Seine Lehranalyse hat der bei Jule Eisenbud gemacht, bei dem er gelernt hat, auf paranormale Phänomene zu achten und sie in die psychoanalytische Arbeit mit aufzunehmen. Richard Reichbart litt als junger Mann unter einer psychotischen Phase und schrieb darüber sein Buch „Anatomy of a Psychotic Experience“. Reichbart wünscht sich, dass die Psychose „demystifiziert“ wird und dass Ausbildungskandidaten mehr darüber lernen würden, wie gut Menschen mit einer Psychose auf Psychotherapie ansprechen (S. XI, Vorwort von Nancy Mc Williams). Im Vorwort schreibt Nancy Mc Williams über Bertram Karon (1930-2019), der anderen Psychoanalytikern gelegentlich Fälle von schizophrenen Patienten vorstellte. Immer habe es jemanden unter den Zuhörern gegeben, der dann gesagt hätte, es könnte sich bei diesem Erfolg nicht wirklich um Schizophrenie gehandelt haben (S. XIII).

Auch Richard Reichbart erntete Kritik für den Therapiebericht über sich selbst – so mancher Psychoanalytiker sagt, dass er keine „echte Psychose“ gehabt haben könnte. Reichbart selbst schätzt es jedoch so ein. Er hatte zwar keine Halluzinationen und keinen Realitätsverlust, doch litt er manchmal unter paranoischen Gefühlen (S. 4) und starken Denkstörungen. Er erlebte besonders die Natur als mystisch (S. 27). Vieles hatte ein Licht um sich herum (S. 33). Reichbart geht auch auf die unbeholfenen Bewegungen ein, die viele Psychotiker (auch ohne Medikamente) an den Tag legen:

„I found writing equally difficult. And my physical movements were uncertain because I did not, increasingly, know exactly how to do the most mundane things.“
(Frei übersetzt von Voos:) „Mir fiel auch das Schreiben schwer. Und meine körperlichen Bewegungen waren unsicher. Zunehmend wusste ich nicht mehr, wie die alltäglichsten Dinge zu tun waren.“

Reichbart spricht von der „Sicherheit“, die Menschen mit schweren psychischen Störungen mitunter erleben. Diese Sicherheit sitzt an der Stelle, an der die Angst normalerweise sitzen müsste:

„I was very positive when I thought I saw people’s motivations. In fact, what I was experiencing was that ’sense of certainty‘ and relief from anxiety which so characterizes the psychosis: I was very much unaware of ambivalence in myself although I believed I could see it in others.“ S. 28
(Frei übersetzt von Voos:) „Ich dachte, ich könnte die Absichten anderer sicher einschätzen. Ich erlebte diese ‚Sicherheit‘ und die Erleichterung von Angst, die so charakteristisch sind für die Psychose: Ich war mir meiner Ambivalenz in Bezug auf mich selbst überhaupt nicht bewusst, doch ich glaubte, ich sei fähig gewesen, diese Ambivalenz bei anderen Menschen zu sehen.“

Zunächst suchte Reichbart irgendwann eine psychiatrische Klinik auf, weil er völlig unfähig dazu war, sich zu beruhigen (S. 4). Dort blieb er nur wenige Wochen. Ein Psychiater empfahl ihm, eine Analyse zu machen. Der Analytiker habe sofort erkannt, dass er am Rande eines Zusammenbruchs war. Bei ihm habe er grundlegende Hilfe gefunden. Anfangs konnte er sieben Mal pro Woche zur Analyse gehen (S. 34). Vier Jahre blieb er dort in seiner Psychoanalyse als Patient. Zusammen mit seiner späteren Lehranalyse gelang es ihm, seine Erfahrungen als etwas Bedeutungsvolles zu verstehen, dass in einem sinnvollen Zusammenhang stand.

Richard Reichbart konnte seine unbewussten psychischen Vorstellungen aufdecken, die er im Zusammenhang mit seinem Vater und Großvater hatte und die ihn schließlich in die Psychose führten. Er beschreibt, wie er auf der neurotischen Ebene den Tod seines Großvaters angenommen hatte, wie er den Tod auf der psychotischen Ebene jedoch verleugnete (S. 42). Erst am Ende des Buches schreibt er, dass er als Krabbelkind einen Säureunfall hatte (S. 67), bei dem ihm Säure über Brust, Arm und Rücken gelaufen war, was Narben hinterlassen hatte. Heute ist bekannt, dass frühe Körpererfahrungen mit schweren Verletzungen ebenfalls zur Psychose beitragen können.

Ein sehr berührendes Buch, kurz und „knackig“, in sehr verständlichem Englisch geschrieben. Empfehlenswert für jeden, der sich für die Psychoanalyse bei Psychosen interessiert.

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Links:

New Thinking Allowed with Jeffrey Mishlove (20.11.2020):
Psi and Psychoanalysis with Richard Reichbart
https://youtu.be/9a6R8MtHo3o?si=dBn5OxaF22MZvP8e

Richard Reichbart (2022):
Anatomy Of A Psychotic Experience
International Psychoanalytic Books (IPBooks), New York
https://ipbooks.net/product/anatomy-of-a-psychotic-experience-by-richard-reichbart/

Dieser Beitrag erschien erstmals am 20.11.2023

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