Ich kann mit meinem Patienten nicht mitfühlen! Woran liegt das?

Der Patient sitzt vor uns und weint bitterlich. Wir jedoch fühlen uns wie versteinert. Wir versuchen, wenigstens mitfühlend dreinzublicken, aber so richtig mag es uns nicht gelingen. Es wird uns unangenehm und wir fragen uns, wie sehr der Patient merkt, dass wir hier nicht so richtig „bei ihm“ sein können. Wieso können wir manchmal mit einem Patienten nicht mitfühlen, obwohl sein Leid so offensichtlich ist? Wichtig ist, zu überlegen: Können wir grundsätzlich nicht mit dem Patienten mitfühlen oder nur an bestimmten Stellen oder in bestimmten Phasen? Wenn wir nicht mitfühlen können, fehlt dem Patienten unsere emotionale Resonanz, die so wichtig ist für den therapeutischen Prozess. Spüren wir genau hin: Wie fühlt sich dieses Nicht-Mitfühlen-Können an?

Hier seien einmal einige Möglichkeiten für das Nicht-Mitfühlen-Können aufgelistet, wobei sich damit sicher nur ein grobes Bild zeichnen lässt:

  1. Wir wehren eigenen Schmerz und eigene Ängste ab. Es ist gerade in der Psychoanalyse häufig günstig, keine Patienten zu nehmen, die einem „zu ähnlich“ sind. Hat der Patient sehr ähnliches wie wir erlebt, dann geraten wir „zu sehr“ ins Schwingen. Wenn wir diese Punkte bei uns selbst noch nicht ausreichend bearbeiten konnten, dann macht der Patient uns an dieser Stelle Angst. Es kann sogar passieren, dass sich auch beim Patienten die Angst verstärkt. So kommt es, dass wir abwehren. Wir können überhaupt nichts mehr fühlen, obwohl wir Ähnliches erlebt haben.
  2. Es ist uns „zu viel“: Manchmal taucht eine „namenlose Angst“ in uns selbst oder im Raum auf – ein schwieriges Gefühl, das sich nicht fassen lässt. Wir sind so mit dieser Angst beschäftigt, dass wir in dem Moment nicht mitfühlen können.
  3. Der Patient hatte wenig einfühlsame Eltern und wir haben uns in der Gegenübertragung innerlich mit diesen Eltern identifiziert. Wir fühlen uns auf einmal so, wie sich die emotional „tote Mutter“ des Patienten immer gefühlt hat. Der Patient hat vielleicht etwas „gemacht“, sodass er hier in der Therapie/Analyse Ähnliches erleben kann wie zu Hause. Vielleicht sagt der Patient sogar: „Ich habe das Gefühl, Sie können nicht mit mir mitfühlen. Es kommt einfach nicht bei Ihnen an.“ Wenn wir an dieser Stelle offen sind und den Patienten einladen, gemeinsam darüber nachzudenken, können neue Erkenntnisse zutage treten.
  4. Wir hatten selbst eine Mutter, die auf unser Leid wie versteinert reagierte. Wenn wir selbst eine unempathische Mutter hatten und in der Therapie sozusagen als „Mutter des Patienten funktionieren“ sollen, merken wir vielleicht, dass es nicht geht. Es kann also sein, dass wir in der Sitzung in eine Situation geraten sind, in der wir in Berührung kommen mit unseren eigenen „unfähigen“ Seiten. Wenn wir Ideen wie diesen nachgehen können, haben wir einen wichtigen Ansatzpunkt.
  5. Der Patient redet am Eigentlichen vorbei. Es gibt Situationen, in denen der Patient etwas erzählt, aber innerlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist. Der Patient weint am Thema vorbei. Er zeigt äußerlich Traurigkeit, aber er ist innerlich vielleicht mit großer Wut oder anderen Gefühlen beschäftigt.
  6. Der Patient ist in Wirklichkeit selbst emotionslos. Er versucht wie ein Schauspieler, durch „künstliches Weinen“ Emotionen hervorzurufen, die er selbst aber auch nicht fühlt. Wir können dann z.B. fragen: „Kann es sein, dass Sie selbst keine Traurigkeit spüren, obwohl Sie meinen, Sie müssten an dieser Stelle traurig sein?“
  7. Wir können mit dem Erzählten wirklich nichts anfangen. Wenn wir noch nicht einmal ansatzweise etwas Ähnliches erlebt haben wie der Patient, dann kann es sein, dass wir an dieser Stelle wirklich einfach nicht mitschwingen können. Vielleicht waren wir als Therapeut nie mit dem Schmerz der Kinderlosigkeit konfrontiert, während die Patientin vor uns fast daran zerbricht.
    Vielleicht hatten wir keine Geschwister und können den Hass, die Eifersucht und das Zurückgesetztwerden in diesem Zusammenhang nicht so richtig verstehen. Doch wir können innerlich andere Szenen heranziehen, in denen es uns ähnlich ging, z.B. wenn wir in der Psychoanalyse-Ausbildung eifersüchtig sind auf ein Couch-Geschwister, das sicher einen viel besseren Kontakt zum Analytiker hat und sicher viel erfolgreicher, reicher, schlauer, gesünder, glücklicher und schöner ist als wir (meinen wir). Es geht um die berühmte Frage, vor der Ärzte oft stehen: Muss ich eine Magenspiegelung selbst mitgemacht haben, um nachempfinden zu können, wie sie sich anfühlt?
  8. Wir haben den eigenen Schmerz „zu sehr“ überwunden. Ist der Patient jung und klagt über seine finanziellen Nöte und schlaflosen Nächte, können wir als ältere Therapeuten machmal nur denken: „Das hatte ich auch mal. Aber ich hab’s überwunden und nun weiß ich gar nicht mehr so richtig, wie das war. Der soll sich mal nicht so anstellen.“
  9. Der Patient möchte echte Begegnung vermeiden. Er weint zwar, aber er will den Therapeuten damit quasi von sich ablenken.
  10. Wir sind in einer schwierigen Lebensphase. Wir sind innerlich vielleicht mit äußerst großem Kummer beschäftigt: mit dem Sterben eines Angehörigen, mit der eigenen bedrohten Gesundheit oder beruflichen Zukunft. Und der Patient erzählt etwas von „harmlosen Partnerschaftsproblemen“. Im Vergleich zu unserem Leid erscheint uns das Problem des Patienten wie „Killefitz“. Wir können versuchen, wieder zurück ins „Hier und Jetzt“ zu finden, aber das gelingt uns nicht immer.
  11. Wir sind körperlich krank oder übermüdet.
  12. Wir fühlen uns unterbezahlt.
  13. Wir sind mit eigenen starken Gefühlen beschäftigt: Neid, Angst oder Scham. Dann machen wir innerlich „zu“ und spüren die Mauer in uns.
  14. Der Patient nimmt Medikamente. Antidepressiva können meiner Erfahrung nach dazu führen, dass sowohl der Kontakt des Patienten zu sich selbst als auch zu anderen Menschen erschwert wird. Das Medikament kann wie eine Mauer zwischen Patient und Therapeut wirken. Häufig sagen Patienten, dass sie durch Antidepressiva nicht mehr weinen können.
  15. Es ist etwas im Container-Contained-System passiert. Der Patient nimmt sich selbst nicht mehr als „Gegenüber“ wahr oder wir nehmen den Patienten nicht mehr als „Gegenüber“ wahr, weil er in der unbewussten Phantasie in uns hereingekrabbelt ist oder wir in der unbewussten Phantasie „in ihm“ sind. Er hat uns gefressen und/oder wir ihn.
  16. Der Rahmen stimmt nicht. Der Psychoanalytiker Ralph Zwiebel hat in seinem wunderbaren Buch „Der Schlaf des Analytikers“ dargestellt, wie sehr die Stundenfrequenz unser Gespür für den Patienten beeinflussen kann. Ist die Stundenfrequenz zu niedrig, kann sich z.B. Müdigkeit einstellen, weil wir den Patienten nicht richtig erfassen können. Darüber nachzudenken lohnt sich. In einer Psychoanalytischen Therapie geht es sowohl dem Patienten als auch dem Analytiker oft besser, wenn die Frequenz von drei auf vier Sitzungen pro Woche erhöht wird, weil sich dann auch der emotionale Kontakt vertiefen kann.
  17. Oft ist es schwieriger, mitzufühlen, wenn Patienten sehr früh und sehr schwer gestört sind, wenn sie autistisch und/oder psychotisch sind. Der Psychoanalytiker Thomas Ogden schreibt über die Gegenübertragungsgefühle bei Patienten, bei denen es um die autistisch-berührende Position geht: „Der Analytiker fühlt sich oft von den mechanischen Verhaltensmustern des Patienten kontrolliert …, hat das Gefühl eigener Unzulänglichkeit aus Mangel an Mitgefühl mit dem Patienten oder den Eindruck, überhaupt unfähig zu sein, eine Beziehung zum Patienten herstellen zu können.“ (Thomas Ogden: Frühe Formen des Erlebens, Psychosozial-Verlag, 2006: S. 45)

Mitgefühl kommt meistens von selbst. Wir brauchen nicht darüber nachzudenken. Doch wenn es fehlt, fällt es uns auf. Um gut mitfühlen zu können ist es wichtig, dass unser eigener Schmerz, unsere Wut und unsere Angst z.B. in einer Lehranalyse/Psychoanalyse gut gehalten werden. Auch Meditationstechniken, z.B. tägliches Yoga, können dazu beitragen, dass wir uns besser auf einen Patienten einlassen können.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 6.10.2019
Aktualisiert am 1.11.2023

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