Todestrieb: „Ich will’s vernichten!“

Wir haben nicht nur einen Lebenstrieb, sondern auch einen Todestrieb. Den Begriff „Todestrieb“ prägte Sigmund Freud um das Jahr 1920. Wir spüren ihn, wenn wir Zerstörungswut verspüren. Schon kleine Kinder lieben es, den Bauklotz-Turm zu zerstören und Marienkäfer zu zertreten. Vereinfacht gesagt gehört das Zerstörerische in uns zum Todestrieb. Schon wenn wir etwas essen und zerbeißen, sind wir zerstörend. Daher gehört auch das Schuldgefühl von Beginn unseres Lebens immer zu uns. Zum Todestrieb gehören zum Beispiel Hass, Neid, Mordgelüste, Selbsttötungswünsche, Rachegedanken, Stillstand und Arroganz. Oft verleugnen wir den Todestrieb. Nur heimlich denken wir bei schlechten Nachrichten: „Schade, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. Schade, dass nicht mehr Menschen zu Tode gekommen sind.“

„Verweilen wir kurz bei dieser exquisit dualistischen Auffassung des Trieblebens. Nach der Theorie E. Herings von den Vorgängen in der lebenden Substanz laufen in ihr unausgesetzt zweierlei Prozesse entgegengesetzter Richtung ab, die einen aufbauend – assimilatorisch, die anderen abbauend – dissimilatorisch. Sollen wir es wagen, in diesen beiden Richtungen der Lebensprozesse die Betätigung unserer beiden Triebregungen, der Lebenstriebe und der Todestriebe, zu erkennen? Aber etwas
anderes können wir uns nicht verhehlen: daß wir unversehens in den Hafen der Philosophie Schopenhauers eingelaufen sind, für den ja der Tod „das eigentliche Resultat“ und insofern der Zweck des Lebens ist, der Sexualtrieb aber die Verkörperung des Willens zum Leben.“
Sigmund Freud, Das Unbewusste, 1920, projekt gutenberg

Rachsucht, Zerstörungswut, Zerbeißen, Explosion, Hass: Herrlich! Zerstörung kann Lustgefühle in uns wecken. Dies zu bemerken, ist ein wichtiger Schritt, um Zerstörung zu verhindern. Denn Schmerz und Qual kommen hinterher. Zerstörungswut kann man auf kreative Weise umlenken: Man kann z.B. Chef einer Abrissfirma werden oder sportliche Höchstleistungen vollbringen, wenn man den inneren Schweinhund killt.

Ein Trieb ist ein Drang in uns

Ein Trieb entsteht aus körperlichen Zuständen wie Hunger, Durst, Lust oder Unlust. Freud formulierte die Theorie von Lebens- und Todestrieb ab 1920 (Mertens/Waldvogel: Handbuch psychoanalytischer Begriffe; Kohlhammer-Verlag, 3. Auflage, 2008: Trieb, S. 777). Melanie Klein betonte in ihren Theorien den „Neid“. Er sei eine Triebmischung, wobei der Todestrieb dominiere (Mertens/Waldvogel: S. 781). Zerstörungswut, Fressen, Zerreißen – all das gehört zum Leben. Manchmal wollen wir verschiedene Anteile in uns „töten“. Der Todestrieb kann Leben vernichten, aber auch neues Leben und Veränderung ermöglichen.

Sehr treffend beschrieben finde ich den „Todestrieb“ in Dostojewskis: „Die Brüder Karamasow“, Anaconda-Verlag 2010, S. 483/485, wobei ich hier unter „Gott“ auch die „Mutter“ oder die „Eltern“ verstehe, die für das Kind gefährlich waren, sodass es nie vertrauen und Nähe zulassen konnte:
„… es gibt schreckliche Menschen, die sich dem Satan und dem stolzen Geist völlig ausgeliefert haben. Für sie ist die Hölle ein selbstgewählter Aufenthalt, so sie in ihrer Halsstarrigkeit für immer bleiben … Denn sie haben sich selbst verflucht, indem sie Gott und das Leben verfluchten. Sie nähren sich von ihrem bösen Stolz … Aber sie sind halsstarrig in alle Ewigkeit und weisen die Verzeihung zurück und verfluchen Gott, der sie ruft. Einen lebendigen Gott können sie sich nicht vorstellen, ohne ihn zu hassen: daher fordern sie, Gott soll kein Leben haben, sondern sich und seine ganze Schöpfung vernichten. Und sie werden bis in alle Ewigkeit im Feuer ihres Zornes brennen und nach Tod und Nichtsein dürsten. Aber sie werden den Tod nicht erlangen.“ Fjodor Dostojewski: Die Brüder Karamasow, Anaconda 2010, S. 483

Der „Todestrieb“ hat auf Italienisch den klangvollen Namen „Pulsione de morte“.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 23.10.2016.
Aktualisiert am 8.3.2024

5 thoughts on “Todestrieb: „Ich will’s vernichten!“

  1. Dunja Voos sagt:

    Lieber Abendstern,
    vielen Dank für Ihren Link zu Joachim Bauers „Schmerzgrenze“.. Ja, ich denke auch, dass Aggression vorrangig eine „Reaktion“ ist. Und doch können wir ohne Aggression nicht leben. Wenn wir Kinder beim Spielen beobachten, können wir regelmäßig entsetzt darüber sein, wie „böse“ sie ihre Püppchen im Sand erhängen und erwürgen – auch, wenn es psychisch gesunde und geliebte Kinder sind.
    In einem Interview hörte ich die Affenforscherin Jane Goodall einmal sagen, dass es eine schwere Lektion in ihrem Leben gewesen sei, zu erkennen, dass die Affen ebenso „böse“ sind wie die Menschen. Ich finde es wichtig, das „Böse“ in sich selbst immer wieder zu erkennen, denn nur so hat aus meiner Sicht das Gute eine Chance.
    Viele Grüße, Dunja Voos

  2. Abendstern sagt:

    https://www.lernwelt.at/downloads/versuchung-des-boesen_interview-rheinische-pos.pdf

    Liebe Frau Dr. Voos,

    in Ihrem Block steht unter „Aggression“ ein Hinweis auf Thomashoff,
    auch er, Psychoanalytiker, widerspricht Freud und beruft sich auf Neurobiologie.
    Freud irrte in vielen Punkten.

    Beste Grüße!

  3. Abendstern sagt:

    Liebe Frau Voos,

    nun also der Marienkäfer,
    so wird das nichts mit der Zukunft der Psychoanalyse,
    Kennen Sie die Ergebnisse der Neurobiologie?
    Der Todestrieb oder Agressionstrieb sind Unsinn.
    Joachim Bauer „Schmerzgrenze“ lesen. Bitte!

    https://www.derstandard.at/story/1304551966708/aufgedeckt-die-ursachen-globaler-gewalt

    Ansonsten lese ich gern hier …

  4. Melande sagt:

    Ich hatte eine Spinnenphobie. Ich bin sehr froh und erleichtert darüber, dass ich es mit Hilfe meiner POSITIVEN AGGRESSIONEN geschafft habe, Spinnen zu killen oder scheußliche, faulige, vergammelte Pflanzenreste aus meinem Garten zu entfernen. Auch das Zerstören längst überfälliger Unordnungen in meiner Wohnung werde ich jetzt anpacken.

    Danke für den Text!
    Melande

  5. hubi sagt:

    oh, die armen marienkäfer!

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