
Manche Menschen stellen ihre Borsten auf, sobald ihnen jemand mit Zärtlichkeit begegnet. Das hat verschiedene Gründe. Bei manchen ist es der „Schmerz des Unterschieds“, den sie spüren: Sie haben so einen Mangel an Zärtlichkeit, dass ihnen das erst richtig bewusst wird, wenn sie zärtliche Berührung erfahren. Oft ist es aber auch die Nähe zur Sexualität, die vielen Angst macht und Scham hervorruft. Kinder, die in einem sexualisierten Klima groß wurden, reagieren als Erwachsene manchmal schon mit Abwehr, wenn ein anderer zärtlich mit ihnen spricht. Was für andere Menschen eine sichere Situation ist, bekommt in der Vorstellung des missbrauchten Menschen schnell schnell einen „sexuellen Touch“. (Text & Bild: Dunja Voos)
Unbestimmtes Leiden
Häufig ist das den Betroffenen zunächst nicht bewusst. Sie leiden nur auf unbestimmte Weise darunter, dass sie Zärtlichkeit oder schon allein berührende Worte nicht zulassen können. Sie schämen sich sofort, sobald Zärtlichkeit auftaucht. Manche reagieren sogar vegetativ – es wird ihnen schlecht oder sie bekommen Angst.
„Wir rechnen zum »Sexualleben« auch alle Betätigungen zärtlicher Gefühle, die aus der Quelle der primitiven sexuellen Regungen hervorgegangen sind, auch wenn diese Regungen eine Hemmung ihres ursprünglich sexuellen Zieles erfahren oder dieses Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, vertauscht haben.“
Sigmund Freud: „Über ‚wilde‘ Psychoanalyse“, 1910
www.textlog.de/freud-psychoanalyse-wilde-psychoanalyse.html
Neue Erfahrungen und neue Bilder mithilfe der Psychoanalyse
In einer Psychoanalyse können viele die Erfahrung machen, dass Zärtlichkeit eine breite Schicht ist. Beim missbrauchten Menschen ist es vom „normalen Kontakt“ bis zum „Sexuellen“ ein kurzer Weg. Es lässt sich aber lernen, dass dazwischen auch eine breite Schicht liegen kann aus vielen Formen der Zärtlichkeit. Es gibt so etwas wie eine „sichere Zärtlichkeit“. Es gibt liebevolle und zärtliche Begegnungen und Beziehungen, in denen die Grenze zur Sexualität sicher gewahrt bleibt. Zärtlichkeit kann Erregung erwecken. Manche Menschen können das bemerken, genießen, bei sich bleiben und sich sicher fühlen. Andere flüchten sofort und wehren die Zärtlichkeit ab, weil sie Angst haben, ihre Impulse nicht beherrschen zu können. Dies hängt sicher auch vom Lebensalter ab: Je älter man wird, desto breiter kann die Zärtlichkeits-Schicht werden.
Der Psychoanalytiker Hermann Beland erklärt, wie Sigmund Freud den Zusammenhang von Sexualität und Zärtlichkeit sah:
„So spricht Freud von zielgehemmten Trieben als Ursache der Zärtlichkeitsbeziehung, ‚die unzweifelhaft aus Quellen sexueller Bedürftigkeit herrührt und regelmäßig auf deren Befriedigung verzichtet‘ (1933a, S. 103), so dass eine dauernde Objektbesetzung* und eine anhaltende Strebung zustande kommt.“ (Hermann Beland: Die Angst vor Denken und Tun. Psychosozial-Verlag, 2. Auflage 2014: S. 30)
*“Objektbesetzung“ heißt, dass der andere einem viel bedeutet. Der andere ist also mit viel Bedeutung besetzt.
Sichere Zärtlichkeit
Bei der „sicheren Zärtlichkeit“ ist es so wie in einem liebevollen Elternhaus, in dem die Eltern die Grenzen der Kinder wahren. Das sieht sicher überall etwas anders aus, aber häufig doch so: Die Eltern klopfen an, bevor sie das Zimmer des Kindes betreten, sie ziehen sich etwas über, bevor sie aus dem Badezimmer kommen, sie beschämen das Kind (besonders in der Pubertät) nicht und verschonen es mit doppeldeutigen Berührungen, Bemerkungen und obszönen Witzen. Kinder, die von ihren Eltern in ihren Grenzen respektiert werden, können später Zärtlichkeit und berührende Worte genießen, weil es sich weich anfühlt und sie nicht in Bedrängnis bringt.
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Literatur:
Ferenczi (1933):
Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XIX 1933 Heft 1/2
archive.org/stream/InternationaleZeitschriftFuumlrPsychoanalyseXixHeft12/IZ_XVIII_1933_Heft_1_2#page/n1/mode/2up
Dieser Beitrag erschien erstmals im Februar 2015.
Aktualisiert am 5.10.2019