Deuten am Dringlichkeitspunkt

In der Hundeschule lernt man: Die Reaktion des Menschen muss in direktem zeitlichem Zusammenhang mit dem Verhalten des Hundes stehen, weil der Hund sonst keinen Zusammenhang mehr zwischen den Geschehnissen herstellen kann. Es ist schon merkwürdig, die Psychoanalyse mit einer Hundeschule zu vergleichen, aber kürzlich kam es mir in den Sinn, als ich meinte, den richtigen Zeitpunkt für eine Deutung verpasst zu haben. Manchmal geschieht es ganz schnell – der Psychoanalytiker überlegt, ob er die Deutung nun geben soll oder nicht und wenige Augenblicke später merkt er: Jetzt ist es zu spät. In der Psychoanalyse gibt es für den passenden, sich aufdrängenden Augenblick zur Deutung einen schönen Begriff: den Dringlichkeitspunkt.

Der Psychoanalytiker James Strachey (1935) schreibt:
„Eine mutative (Anmerkung: eine zur Veränderung führende) Deutung kann nur bei einer Es-Regung mit aktueller Besetzung Anwendung finden. (Heißt: Der Patient muss von einem Gedanken oder Gefühl stark ergriffen [= „besetzt“] sein.) … Jede mutative Deutung muss gefühlsmäßig ‚unmittelbar‘ sein, der Patient muss sie als etwas Gegenwärtiges empfinden. … Deutungen müssen immer auf den ‚dringlichsten Punkt‘ hinzielen. In jedem bestimmten Moment wird eine besondere Es-Regung in Bewegung sein; diese Regung und keine andere ist dann für eine mutative Deutung gerade empfänglich. Zweifellos ist es weder möglich noch wünschenswert, die ganze Zeit mutative Deutungen zu geben; aber wie Melanie Klein (Anmerkung: Die Psychoanalyse des Kindes, 1932) hervorgehoben hat, ist es eine sehr wertvolle Eigenschaft eines Analytikers, jeden Augenblick den ‚Dringlichkeitspunkt herausfinden zu können‘.“ (PDF)
James Strachey:
Die Grundlagen der therapeutischen Wirkung der Psychoanalyse
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 1935, 21 (4): 486-516
https://archive.org/details/InternationaleZeitschriftFuumlrPsychoanalyseXxi1935Heft4

„(Der Dringlichkeitspunkt) … kennzeichnet den Augenblick, an dem etwas aus dem Unbewussten des Analysanden auftaucht und der Analytiker glaubt, es deuten zu müssen. Es ist etwas, was innerhalb des intersubjektiven Feldes geschieht, das beide Beteiligte zusammen umfasst und eine eigene, teils unbewußte Dynamik besitzt.“
Madeleine Baranger (1993):
Die geistige Arbeit des Analytikers: vom Zuhören zum Deuten
Jahrbuch der Psychoanalyse: Band 30
Frommann-Holzboog 1993
https://www.frommann-holzboog.de/periodika/941/941003020

Dringlichkeitspunkt = französisch: Point d’urgence
„C’est ‚le fantasme inconscient‘ créé par les deux membres du ‚couple‘ qui vient à constituer un point d’urgence à  interpréter en priorité.“
„Es ist eine unbewusste Phantasie, die von beiden (dem ‚analytischen Paar‘) kreiert wird und die dann zum Dringlichkeitspunkt wird, der vorrangig gedeutet werden will.“
Madeleine et Willy Baranger (2009):
La situation analytique comme champ dynamique
Revue Francaise De Psychanalyse, 2009/2 (Vol. 73)
DOI : 10.3917/rfp.732.0605
https://www.cairn.info/revue-francaise-de-psychanalyse-2009-2-page-605.htm

Wenn der Patient schweigt, kann es dennoch einen Dringlichkeitspunkt geben:
„… the point of urgency is already present in the silence. … Consequently, we need to differentiate various points of urgeny in an analytic session or sometimes in a sequence of sessions.“
„Der Dringlichkeitspunkt ist bereits in der Stille da … Folglich müssen wir zwischen verschiedenene Dringlichkeitspunkten in einer analytischen Sitzung oder einer Folge von Sitzungen unterscheiden.“ Madeleine Baranger, Willy Baranger (2008):
The analytic situation as a dynamic field
The International Journal of Psychoanalysis
Volume 89, Issue 4, August 2008, Pages 795-826
https://doi.org/10.1111/j.1745-8315.2008.00074.x
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1745-8315.2008.00074.x

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Dieser beitrag erschien erstmals am 2.4.2018
Aktualisiert am 25.2.24

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