Trotz und Liebe: Mein Kind bleibt einfach stehen

Manchmal verstehen wir uns selbst nicht mehr: Wir sind einfach „trotzig“, obwohl wir es gar nicht wollen. Wir geben uns stachelborstig, obwohl wir in den Arm genommen werden wollen. „Trotzen“ kommt von „Trutzen“, was so viel heißt wie Widerstand leisten, aber auch mutig sein. Im Trotz werden gebeten, etwas zu sagen oder zu tun und machen es gerade deshalb nicht. In der Psychoanalyse spricht der Patient auf einmal nicht weiter. Früher sagte man vorrangig, er widersetze sich, leiste „Widerstand“. Natürlich kann das auch der Grund sein. Doch heute sieht man auch, dass ein Patient schweigt, wenn er sich erstmal innerlich sortieren will. Wer trotzig ist, fühlt sich häufig ohnmächtig und wie von vielen Zwängen hypnotisiert.

Im Trotz ist das Gefühl von innerer und äußerer Freiheit verschwunden. „Der andere würde mich ja sowieso nicht lassen. Er würde mich nicht verstehen, es hat keinen Zweck“, denken wir. Trotz ist eine Art Resignation in einem eingefrorenen Zustand.

Wenn wir dem anderen etwas von uns erklären wollen, von dem wir denken, er versteht es nicht, werden wir unruhig. „Wie soll ich es ihr nur sagen?“, denken wir. Schon bei dem Gedanken an das Gespräch spüren wir Wut aufsteigen. Vielleicht schämen wir uns auch, weil unsere Beweggründe uns die Schamesröte ins Gesicht steigen lassen. „Ich kann nicht mehr als drei Patienten am Tag behandeln, das übersteigt meine Kräfte“, denkt eine Psychotherapeutin. Doch der Chef gibt eine Mindestzahl von fünf Patienten vor. Kann sie ihm die Gründe erklären? Oder wird sie mit Trotz reagieren?

Trotz bei Kindern und Erwachsenen

Kinder, die trotzig sind, zeigen ihren Eltern vielleicht, dass sie heute einfach schon zu viele „Neins“ gehört haben. Die vielen „Warte-mal-kurz“ haben sich zu einem Berg aufgetürmt. Die Eltern haben gar nicht bemerkt, wie oft sie ihr Kind an diesem Tag schon eingeschränkt haben. Die Kinder wiederum sind abhängig von ihren Eltern und wenn Eltern ihre Macht zu sehr ausüben, gehen Kinder in den Trotz. Es ist für sie die einzige Reaktion, die bleibt, um sich in ihrer Ohnmacht wenigstens noch selbst zu spüren.

Bei Erwachsenen ist es oft sehr ähnlich, wobei sie sich manchmal unterdrückt, abhängig und ohnmächtig fühlen, obwohl sie es vielleicht gar nicht sind. Aber sie empfinden es so, weil sie es im Leben so oft erlebt haben. Beim Trotz gerät man ins Stocken. Jeder Muskel scheint erstarrt.

„Die feindlichen Gefühle bedeuten ebenso eine Gefühlsbindung wie die zärtlichen, ebenso wie der Trotz dieselbe Abhängigkeit bedeutet wie der Gehorsam, wenn auch mit entgegengesetztem Vorzeichen.“
Sigmund Freud (1917): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: 27. Vorlesung: Die Übertragung

Kraftlosigkeit trifft auf Kraftlosigkeit

Eine Mutter die ihrem schreienden Kind gegenübersteht, ist oft selbst gerade am Ende. Der Tag war lang und man möchte einfach nur in Frieden nach Hause oder ins Bett kommen. Irgendwie warten wir Eltern darauf, dass das Kind jetzt aufhört zu schreien und einfach in Ruhe das tut, was ansteht. Es ist merkwürdig, wie wir Erwachsenen da immer wieder auf eine Art Wunder hoffen. Doch das Kind zeigt uns, dass es das nicht einfach kann. Es kann nicht einfach aufhören, sich zu wehren. Es braucht das Sich-Wehren noch.

Das Kind ist eigentlich die schwächere Person von beiden, auch wenn es noch so wütend schreit. Doch die Eltern, die vielleicht selbst zu oft in ohnmächtige Positionen geraten, fühlen sich ebenfalls unendlich schwach. Wir Erwachsenen können uns manchmal nur ebenso schwer regulieren wie unsere Kinder auch.

Wenn wir am Ende unserer Kräfte sind und unser Kind trotzt, dann bräuchten wir eigentlich selbst jemanden, der uns in den Arm nimmt. Manchmal können wir uns da nur mit unserer eigenen Vorstellungswelt behelfen.

Das trotzende Kind hasst seine Starre in dem Moment selbst, weil es sich verloren fühlt. Es würde so gerne anders, aber es weiß nicht wie. Es ist vollkommen orientierungslos und gibt den Eltern widersprüchliche Zeichen: Hass und Liebe liegen sehr nahe beieinander.

Wir alle kennen dieses Bild: Wir gehen durch die Stadt und sehen eine Mutter mit ihrem schreienden Kind. Das Kind will auf den Arm genommen und getragen werden. Die Mutter fühlt sich selbst dabei „auf den Arm genommen“. Ihre Einkaufstaschen sind schwer, sie ist müde. Sie selbst fühlt Trotz. „Von Dir lasse ich mir doch nicht auf der Nase herumtanzen!“, ruft sie dem Kind zu. Sie dreht sich um und geht weiter.

Das Kind ist nun vollends außer sich und schreit. Für die Mutter ist es fast, als müsste sie sterben, wenn sie jetzt ihr Kind auf den Arm nimmt. Und ihr Kind fühlt sich möglicherweise ähnlich, jetzt, da es zurückgelassen wird. Wut hat die beiden vollkommen im Griff. Hinzu kommen Gedanken: „Was sollen die anderen Fußgänger jetzt denken, wenn ich dieses brüllende Kind jetzt auch noch auf den Arm nehme?“ Die Situation ist eine verflixte Zweiersituation mit Zuschauern, die vermeintlich nichts Förderliches denken.

Doch wenn die Mutter die Kraft findet, wieder auf ihr Kind zuzugehen und es hochzunehmen, wird die dramatische Szene wahrscheinlich rasch beendet sein. Ihr Kind zeigt wahrscheinlich nicht Triumph (wie die Mutter befürchten mag), sondern Erleichterung und eine Art Dankbarkeit.

Hilfreich könnte es sein, wenn die Mutter sich vorstellen könnte, dass ein warmherziger Dritter diese Szene anschaut. Wenn sie sich vorstellen könnte, dass da jemand Außenstehendes sagt: „Ach ihr zwei Schätzchen – so müde und erschöpft seid ihr beide.“ Die Mutter könnte entspannen und ihre eigene Not, aber auch die Not ihres Kindes wieder sehen. Und manchmal nutzt eben alles nichts: Irgendwie muss man nach Hause kommen und wenn die Taschen schwer sind, bleibt einem manchmal nichts anderes übrig, als das protestierende Kind hinter sich herzuschleifen. Dabei kann Klagen etwas helfen, um sich selbst zu betäuben.

Gefühle zeigen und Mitgefühl üben

Die Mutter kann dem Kind ihren Unmut zeigen, aber sie kann auch zeigen, dass sie die psychische Kraft wiederfinden kann, die vertrackte Situation zu beenden. Leider haben viele Mütter und Väter selbst zu oft die Erfahrung von Ohnmacht gemacht. Wenn sie ihrem Kind nachgeben, haben sie das Gefühl, das Kind hätte den Kampf gewonnen. Doch oft ist das Kind erleichtert und das wütende Schreien wird zum erleichterten Schluchzen.

Bewegung hilft. Wenn wir uns selbst im Widerstand befinden und trotzig sind, helfen manchmal kleine Bewegungen, um uns aus der Starre zu befreien. Schon ein Raumwechsel kann den Widerstand etwas lockern. Auch kann man einmal versuchen, die Füße auf dem Boden zu spüren und die Zehen auseinanderzuspreizen, sodass die Waden spürbar werden. Dies ähnelt dem Gefühl des Räkelns beim morgendlichen Gähnen und Aufwachen. Es kann eine Spur von Behaglichkeit mit sich bringen.

Oben und unten

Auch eine Veränderung im Denken kann möglicherweise helfen, aber nur dann, wenn das Gefühl mitkommt: Beim Trotz geht es oft um „oben und unten, stärker und schwächer“, um „Kontrolle und Widerstand“ und um das Gefühl „zu kurz“ zu kommen. Es ist ein Kräftespiel. Das kann man jedoch infrage stellen.

Es sieht so aus, als demonstriere der andere Macht, weil er selbst Angst hat, sein „Ich“ könnte zu kurz kommen. Doch vielleicht ist der andere gerade selbst erstarrt? Vielleicht verstünde der andere mich sehr gut, wenn ich ihm erzählen könnte, wie es mir geht. Vielleicht ist es gar nicht so hoffnungslos wie ich glaube. Vielleicht sind wir nicht stärker und schwächer als der andere, sondern fühlen uns ganz ähnlich wie er, doch jeder wartet, dass der andere sich lösen kann und den ersten Schritt geht.

Güte und Dankbarkeit

Wenn die Mutter zum trotzigen, unbarmherzigen Kind geht und es hochhebt, dann befürchtet sie mitunter, sie sei nicht „konsequent“ und sie sei „manipuliert“ worden. Doch das Kind empfindet es oft anders. In ihm können neue Bilder entstehen, sodass es später auch mit den Begriffen „Dankbarkeit, Gnade, Barmherzigkeit“ etwas anfangen kann.

Wer im Trotz ist, ist gerade unbarmherzig. Er hasst den anderen und ist nicht gerade empathiefähig. Kleine Kinder können zudem noch nicht in dem Maße mentalisieren wie z.B. Schulkinder – sie können sich noch nicht so selbstverständlich vorstellen, dass auch Eltern eine innere Welt haben, die ihr Handeln lenkt. Eltern fragen sich: Ob das Kind mich für zu „nachgiebig“ hält, wenn es „seinen Willen bekommt“? Denkt es, dass ich zu weich bin, wenn es mir gelingt, die trotzige Situation aufzulösen?

Nein – denn das Kind spürt trotz allem auch, dass das ein Kraftakt für die Eltern ist. Nur dann, wenn die Eltern ständig selbst über ihre Grenzen gehen und dem Kind nicht zeigen, wie es ihnen wirklich geht und wann ihre Kräfte zu Ende sind, entsteht ein ungutes Ungleichgewicht. Wenn Mutter oder Vater jedoch genug inneren Raum haben, um in Trotzsituationen auf das Kind zugehen zu können, werden sie ein oder zwei Jahre später feststellen, dass das Kind kein Tyrann geworden ist und liebevoll mit sich und anderen umgehen kann.

Doppelbotschaften. Im Trotz geben wir Doppelbotschaften. Wir denken innerlich vielleicht sogar: „Es tut mir so leid, ich will dir nicht weh tun, aber ich tue Dir unweigerlich weh, denn ich bin gerade wie in Ketten gelegt.“

Wiedergutmachung – ein Grundbedürfnis. Wir alle haben das Bedürfnis, die Dinge wiedergutzumachen. Schon ganz kleine Kinder wollen die Zerstörung wieder gutmachen. Das Wissen darum, wirkt entspannend.

Wem es gut geht, der muss weniger trotzen

Oft wird ein Kind dann trotzig, wenn die Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt sind – wenn es schlicht müde, hungrig, durchgefroren oder durstig ist, wenn es zu lange von Mutter und Vater getrennt war oder am selben Tag schon 20-mal ein „Nein“ verkraften musste. Ähnlich ist es bei uns Erwachsenen auch. Je besser und freier wir uns fühlen, desto weniger müssen wir trotzen. Darum ist es so wichtig, sich gut um sich selbst zu kümmern, die eigenen Bedürfnisse zu kennen und sich selbst gut zuzureden. Es kann auch hilfreich sein, sich immer wieder zu verdeutlichen, dass die frühe Elternzeit eine Zeit der Entbehrungen ist. Den Eltern wird viel Verzicht abverlangt. Man kann das Verzichten üben und darf berechtigterweise darauf hoffen, dass sich die harte emotionale Arbeit lohnt.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 7.11.2012
Aktualisiert am 8.4.2023

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2 thoughts on “Trotz und Liebe: Mein Kind bleibt einfach stehen

  1. Elisabeth sagt:

    Hallo!
    Ich finde mehr als schade, dass auch in diesem Artikel ausschließlich die Mutter als Bindungsperson benannt wird, die Trotz aushält, verursacht, löst. Anonsten hat mir der Text gefallen, interessant wie hilfreich.

  2. Katharina B. sagt:

    Danke für diese gute Zusammenfassung. Ich werde sie mit Freude von meinem Blog aus verlinken, auf dem ja so einiges über’s Trotzen steht. In unserer Familie prallen ja gleich drei Sturköpfe aufeinander, zwei davon mit 40 Jahren Erfahrungsvorsprung auf den Dritten (aber der holt auf :-) )
    Ich fand und finde es hilfreich, in Trotzsituationen im Hinterkopf zu behalten, dass das Kind a) es nie, nie, nie persönlich meint und b) aus seiner Perspektive Recht hat. Wieso hat es Recht? Weil die Welt so riesengross ist, und ich selber so winzig klein und machtlos, und ich möchte doch wenigstens ein kleines Bisschen selbst bestimmen können…
    Die Sache mit der Wiedergutmachung und dem Wieder herstellen der Verbindung finde ich ebenfalls ganz, ganz wichtig. An „trotzigen Tagen“ (ja, auch Mamas trotzen! und wie!) lege ich viel Wert auf einen gemeinsamen Mittagsschlaf, da wird gekuschelt bis satt! Und als Mama kann man auch mal nachgeben oder sich entschuldigen, wenn man Unrecht hat. Dadurch verliert man nicht etwa an Autorität. Nein, man gewinnt ganz viel an Respekt!

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