Rumpelstilzchen – was, wenn wir uns selbst so fühlen?

Wenn das Märchen „Rumpelstilzchen“ interpretiert wird, liegt der Schwerpunkt häufig auf der Müllerstochter, die sich zur Frau entwickelt und viele Hürden überwinden muss. Märchen helfen, die eigene Innenwelt zu verstehen. Was aber, wenn man das Märchen aus Sicht des Rumpelstilzchens betrachtet? Was, wenn man sich so fühlt, als sei man das Rumpelstilzchen selbst? Das Rumpelstilzchen ist ausgeschlossen von dieser Welt. Es ist einsam und hässlich. Es ist selbst noch ein Kind, gleichzeitig ein Greis und es verrät sich selbst.

Das Rumpelstilzchen hilft der Prinzessin, am Leben zu bleiben und ihren König zu heiraten – und geht selbst leer aus. Es ist nicht liebenswert, nur nützlich. Wenn es seine Arbeit getan hat, muss es gehen.

Undenkbar für das Rumpelstilzchen, selbst einmal eine Frau zu finden und ein Kind zu bekommen. Daher kommt es auf die Idee, ein Kind zu stehlen. Es sieht keine Chance, auf anderem Wege aus der Einsamkeit zu finden. Fast gelingt es ihm: Das vermeintliche Glück ist gerade vor seiner Nase, als die Königin Rumpelstilzchens Namen errät. Das Böse wird ertappt und entlarvt.

Ein Rumpelstilzchen ist ein „Treibstock, der in wasserbetriebenen Mühlen den Rüttelschuh immer gleichmäßig arbeiten lässt …“
(Quelle: Günter H. Seidler: Rumpelstilzchen auf der Couch, V&R 1990, S. 263, http://psydok.psycharchives.de/jspui/handle/20.500.11780/1262)

Das Rumpelstilzchen taucht auf, als die Prinzessin eingesperrt ist. Es ist eine Phantasie der Prinzessin, um ihre Einsamkeit zu verarbeiten. Sie ist nur deshalb in die Gefangenschaft geraten, weil ihr eigener Vater mit ihr geprahlt hat. Das Rumpelstilzchen ist aus der Not geboren und wird zu einem verhängnisvollen Freund. Es ist vielleicht auch das abgespaltene, innere „Böse“ und „Allmächtige“ der Prinzessin. Später, als die Prinzessin seinen Namen erkennt, verhöhnt sie es – es sieht aus, als habe sie die Angst vor dem Rumpelstilzchen verloren, aber die Gefahr bleibt, dass es immer wieder als „böses Etwas“ auftauchen kann.

Hat das Rumpelstilzchen eine Chance?

Vielleicht fühlt sich so mancher selbst wie ein Rumpelstilzchen – genauso sonderbar, unansehnlich, schuldig, schambehaftet, ungewollt, benutzt und einsam. Die eigene Fähigkeit (Gold zu spinnen) ist eine allmächtige Spinnerei. Vielleicht steht das Rumpelstilzchen für eine Figur, die wir selbst in unserer Einsamkeit in uns tragen: Manchmal kann man (im stillen Kämmerlein) Großartiges vollbringen, aber manchmal möchte man dem anderen heimlich etwas rauben – vielleicht, weil man glaubt, man bekäme das Gute sonst sowieso nicht.

Das Rumpelstilzchen hasst sich selbst. Es nimmt keinen Kontakt zu anderen auf – außer zu einem einzigen Menschen. Es ist ein Außenseiter und tief einsam. Hass und Neid auf die Liebe anderer und Zerstörungswut erfüllen es und schließlich wird es zerstört davon. Es glaubt nicht daran, dass es ihm einmal möglich sein wird, dasselbe Glück zu erfahren wie andere auch: Liebe, Partnerschaft, Familie, Kinder. Und sein Äußeres scheint ihm Recht zu geben.

Hoffnungslos

Manchmal fühlen wir uns wie Rumpelstilzchen: isoliert, einsam, namenlos. Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, fühlen sich wahrscheinlich häufig so. Rumpelstilzchen scheint von Anfang an verloren zu sein, weil es so „behindert“ ist. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass sich dieses Wesen entwickeln könnte, dass es wachsen, ansehnlich und sympathisch werden könnte, wenn es auf den richtigen Menschen trifft. Es scheint unveränderbar zu sein. Irgendwann braucht man es nicht mehr.

Die Phantasie aber ist vielleicht da, es könnte sich zu einem guten Wegbegleiter entwickeln, wenn es selbst und andere es nur wollten. Das Rumpelstilzchen ist wie ein eckiger Traum: Es passt nicht so richtig und wir finden keine Lösung.

Warum wird das Rumpelstilzchen zerstört, als man es beim Namen nennt?

Sobald Rumpelstilzchen mit Namen erkannt wird, zerstört es sich. Es zerreißt sich vor Scham und Schuld in der Luft. Es möchte vor Scham im Boden versinken. Es ist aber auch so, dass der Schrecken vergeht, sobald er benannt werden kann (siehe Twitter). Die Angst der Mutter, das Kind doch noch zu verlieren, verschwindet. Nicht nur Rumpelstilzchen hat jetzt einen Namen, sondern auch das Kind. Die Beziehung ist da, das Fremde, Störende löst sich auf und ist integriert.

Ein hervorragendes Essay zum Suizid von Rumpelstilzchen:
John Terry Maltsberger & Elsa F. Ronningstam:
Rumpelstiltskin Suicide
Suicidology Online 2011; 2:80-88.
www.suicidology-online.com/pdf/SOL-2011-2-80-88.pdf
Rumpelstilzchen suizidiert sich, als es seine Grandiosität verliert.

Katharina Thalbach spielt das Rumpelstilzchen

In der deutsch-österreichische Verfilmung des Rumpelstilzchens aus dem Jahr 2006 wird Rumpelstilzchen von der wunderbaren Katharina Thalbach gespielt. In dem kleinen Hutzelmännchen steckt eine großartige Schaulspielerin. Filmmusik: Christoph Zirngibl

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Links:

Seidler, Günter H.
Rumpelstilzchen auf der Couch –
ein Ensemble von Scham-, Identitäts- und Vaterthematik
Verlag Vandenhoeck&Ruprecht, 1990
psydok.psycharchives.de/jspui/handle/20.500.11780/1262

Dr. med. Annette Prollius
Rumpelstilzchen – Verraten und verkauft
www.dr-annette-prollius.de/ShowInfoefc8.html?link=135

Brigitte Berchtold
Das Rumpelstilzchen-Prinzip
gedankenschatz.de/das-rumpelstilzchen-prinzip/

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 9.12.2013
Aktualisiert am 31.5.2023

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