
Es ist viel zu lesen über Phänomene, die sich nur schlecht erklären lassen. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875-1961) beschrieb, wie ein goldglänzender Rosenkäfer (Cetonia aurata) gegen die Scheibe des Therapiefensters flog, während seine Patientin von einem Traum mit einem Rosenkäfer erzählte. Er nannte dieses Phänomen, bei dem sich Geistiges kurze Zeit später oder zeitgleich draußen in körperlicher Form zeigt, „Synchronizität“. Wahrscheinlich hat jeder Mensch schon einmal solche Phänomene erlebt – da wacht man nachts schweißgebadet auf in dem Moment, in dem ein nahestehender Mensch stirbt. Oder ein Patient erzählt einen Traum, der das widerzugeben scheint, was der Psychoanalytiker am Tag zuvor erlebt hat.
Besonders Psychotiker, Kinder und Jugendliche beschäftigen sich viel mit solchen nicht erklärbaren Phänomenen, doch gerade bei ihnen lässt sich oft auch erkennen, wie groß das Wunschdenken und die Sehnsucht nach Sensation eine Rolle spielen. Zur Zeit sind auf TikTok Videos über „Manifestationen“ sehr beliebt.
Gerade viele Psychotiker geben allem, was geschieht, eine übermäßige Bedeutung, weil es ihnen schwer fällt, ihre eigenen Affekte wahrzunehmen, Worte dafür zu finden und Beziehungen richtig zu verstehen. Zudem sind sie häufig geplagt von schrecklichen Erinnerungen – auch an Zustände in der Kinder- und Babyzeit. Die Augen der Mutter, die das Baby nicht „richtig“ anzuschauen vermochten, werden zu verfolgenden oder leeren, unheimlichen Blicken.
Vieles lässt sich bei vielen Phänomenen nicht erklären. Doch ich finde es interessant, sich mit dem Gefühl zu beschäftigen, das bei solchen Phänomenen entsteht.
Das „Tiefegefühl“
Als ich in kürzlich in der Küche stand und etwas über COVID sagte, was gerade durch die Nachrichten ging, las mein Kind exakt Dasselbe auf ihrem iPad. Ich sah, wie sehr es sie erschreckte. Ich selbst aber hatte die Zusammenhänge beobachten können – ich hatte keine Angst, weil ich die Kette der Situationen habe verfolgen können. Meinem Kind jedoch kam es vor, als seien 1000 Zufälle gleichzeitig zusammengekommen.
Das Wort „Zufall“ deutet schon auf das Gefühl des „Fallens“ hin, das dann entsteht.
Das Gefühl, das in solch scheinbar unerklärlichen Situationen entsteht, ist ja oft ein Gefühl von unglaublicher Tiefe. Es ist, als öffnete sich alles in uns, als ginge der Magen auf und das Darmrohr gleich mit. Manche Menschen bekommen eine Panikattacke und müssen sofort zur Toilette, weil Durchfall entstanden ist. Oder es wird einem übel. Mir kommt manchmal das Bild eines „Müllschluckers“ in den Sinn: Ein durchgehender dunkler Gang in einem großen Gebäude – von oben bis unten geöffnet (was wiederum an das Magen-Darm-System denken lässt).
Der andere, der gerade das sagt, was wir dachten oder das träumte, was wir erlebten, scheint mitten in uns selbst hineinzustapfen.
Und was passiert in diesem Moment mit unserem „Ich“?
Es ist kurz so, als sei das „Ich“ gar nicht da (siehe: „Die Suche nach dem Subjekt im psychotischen Erleben“, Küchenhoff 2015). Ich denke an ein Youtube-Video zur Meditation, in dem es darum ging, dass man versuchen sollte, sein „Ich“ innerlich zu erhaschen. Man würde dann merken, dass da gar nichts ist und dass das Ich eine Illusion sei. Oft wird dabei vergessen, dass das „Ich“ ja zunächst „ein Körperliches ist“, wie Sigmund Freud sagte. Wenn wir also Zufälle erleben, ist es, als vergäßen wir für einen Moment unseren Körper. Es fühlt sich an, als sei er gelähmt.
Wir können in dem Moment des Zufalls kurz nicht mehr zwischen innen und außen, zwischen Ich und Du unterscheiden.
Das Prinzip von „Ursache und Wirkung“ scheint verloren zu gehen. Es finden scheinbar zwei gleichförmige Dinge „parallel“ statt. Wir verlieren dabei unser „Selbstwirksamkeitsgefühl“, was sich z.B. in einem Schwächegefühl unserer Hände bemerkbar machen kann. Wir spüren Ohnmacht und Schrecken, was jedoch – ähnlich wie bei einem Orgasmus – nur wenige Momente anhält. Wir können das, was da mit uns passiert, nur schwer in Worte fassen.
Ein kleines Kind sagte mir einmal, ich solle zu der Musik, die aus dem CD-Player kommt, nicht singen, weil es dann nicht mehr unterscheiden könne, ob die Melodie aus dem Player kommt oder von mir. Auch wenn es selbst sang, wehrte es sich, wenn ich mitsang – auch hier war es dem Kind unheimlich, wenn ich selbst in die gleiche Tonlage einstimmte, die es selbst gerade sang. Das „Wehren“ verschaffte dem Kind ein „Ich-Gefühl“ und schützte es so vor dem Gefühl des Sich-Auflösens, des Nicht-mehr-Unterscheidenkönnens.
Differenzierung gibt Sicherheit
Man könnte also sagen, dass das Gefühl für das „Ich“ während eins unheimlichen Erlebnisses einen Augenblick lang verschwindet. Und das ist es, was uns bei Phänomenen wie der Telepathie in so schreckliche Angst versetzt. Wir haben das Gefühl, nicht mehr unterscheiden zu können, verwirrt zu werden, nicht mehr klar denken zu können. Wir haben das Gefühl, verschluckt zu werden. Oder es entsteht das Gefühl, ein anderer dringt psychisch in uns ein.
Gerade Psychotiker hatten oft Mütter, die zu ihren Kindern sagten: „Du bist für mich wie aus Glas“, also in dem Sinne, dass sie alles wüssten, was im Kind vorging (siehe Harold Searles: Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung). Gleichzeitig bedeutet der Satz, dass das Kind durchsichtig, also gar nicht da ist. Hieraus lässt sich die Angst vieler Psychotiker erklären, andere könnten ihre Gedanken lesen.
Die Angst, der andere könnte unsere Gedanken lesen, ist jedoch schon eine relativ „reife“ Angst, denn Wort-Gedanken sind ja schon Sprache und Sprache ist ein Zeichen für Bewusstsein. Schlimmer ist die Angst, der andere könnte irgendwie unsere Zustände erfassen und mit ihnen in einen unangenehmen Einklang geraten.
Kommunikation von „Unbewusst zu Unbewusst“ kann Angst machen
„Telepathie“ ist sozusagen das Gefühl, dass der andere Zugang zu eigenen tieferen Schichten hat – also nicht nur zu den Gedanken im Kopf, sondern auch zu den Bauchgefühlen oder zu Träumen, Phantasien, Erinnerungen und insgesamt zum Inneren.
Den Betroffenen, die „Telepathie erleben“, fehlt es paradoxerweise häufig an dem Gefühl, wirklich verstanden zu werden – also mit Gedanken und Gefühlen verstanden zu werden.
Sie fühlen sich vom anderen abgeschnitten und entwickeln dann so etwas wie „telepathische Gefühle“, die meistens auch mit dem Gefühl verbunden sind, durchgängig zu sein.
Auch Herz und Atmung sind während des Zustandes, in dem Grenzüberschreitung (Telepathie, Synchronizität etc.) erlebt wird, betroffen. Die Atmung kann sehr vertieft sein, in der Ausatmung stoppen oder im Gegenteil: sehr flach sein. Manche spüren ihr Herz heftig klopfen oder haben unangenehme Haut- und Muskelempfindungen. Manche Patienten entwickeln während eines psychotischen Schubs sogar Fieber. Die Abwehr arbeitet.
Manche erleben ihr Ich während eines „unheimlichen Erlebnisses“ wie in die Ecke gedrängt oder an die Wand gedrückt. Aber immerhin ist da noch ein Funken „Ich“ da. Andere erleben ihr Ich als vollkommen weggefegt. Sie fühlen sich handlungsunfähig. Die Wahrnehmung verändert sich dabei: Die anderen werden als „komisch“ erlebt.
Selbstkenntnis und Wahrnehmung stärken
Es bedarf oft großer Selbstkenntnis und Übung, um zu bemerken, wie sich die Wahrnehmung durch eigene Affekte verändert. Wenn z.B. im Zusammensein mit einem anderen schreckliche Erinnerungen an frühere, ähnliche Situationen auftauchen, kann es sein, dass wir den anderen plötzlich als bedrohlich, unsympathisch oder gar „ekelig“ wahrnehmen. Wenn wir aber formulieren können, was in uns vorgeht und der andere versteht uns, dann können wir bemerken, wie auch der andere sich für unsere Wahrnehmung wieder verändert. Er sieht freundlicher aus und riecht gut.
Die Dinge sind also hochkomplex. Es gibt unendlich viel, was wir nicht erklären können. Es gibt Zufälle, vielleicht auch Fügungen und unerklärliche Phänomene. Gleichzeitig gibt es jedoch auch Verarbeitungsmodi in uns selbst, die manches unheimlich erscheinen lassen, was sich jedoch sehr gut erklären lässt. Die Dinge voneinander unterscheiden zu lernen, ist eine wichtiger Aspekt der Psychoanalyse.
Auszug aus Sigmund Freuds: Das Unheimliche (1919):
(bezugnehmend auf „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, 1815, schreibt Freud:)
„An gewissen Abenden pflegte die Mutter die Kinder mit der Mahnung zeitig zu Bette zu schicken: Der Sandmann kommt, und wirklich hört das Kind dann jedesmal den schweren Schritt eines Besuchers, der den Vater für diesen Abend in Anspruch nimmt. Die Mutter, nach dem Sandmann befragt, leugnet dann zwar, daß ein solcher anders denn als Redensart existiert, aber eine Kinderfrau weiß greifbarere Auskunft zu geben: »Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bette gehen wollen und wirft ihnen Hände voll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung (= Fütterung) für seine Kinderchen, die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.« Obwohl der kleine Nathaniel alt und verständig genug war, um so schauerliche Zutaten zur Figur des Sandmannes abzuweisen, so setzte sich doch die Angst vor diesem selbst in ihm fest.“ (Ausgabe reclam 2020: S. 18)
Marion Bönnighausen über „Der Sandmann“:
„Es ist ein finsteres Nachtstück über die Abgründe der Seele, das E.T.A. Hoffmann geschrieben hat.“
etahoffmann.staatsbibliothek-berlin.de/portfolio-item/sandmann/
Spezialfall Vojta-Therapie
Bei der Vojta-Therapie werden dem Baby Reflexpunkte gedrückt, durch die es quasi „gezwungen“ ist, die Bewegung auszuführen, die es ausführen soll. Es bewegt sich selbst und gleichzeitig nicht. Die Bewegung wird durch jemand anderen ausgelöst – nicht durch den eigenen Willen. Es entsteht vielleicht eine Art „Marionettengefühl“. Diese immense Verwirrung kann meiner Meinung nach zu psychotischen Zuständen führen. Das Baby verliert in dem Moment möglicherweise sein aufkeimendes „Ich“. Es schreit also nicht nur vor „Anstrengung“, sondern möglicherweise auch, um sein Selbstgefühl zu retten.
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Literatur:
Sigmund Freud (1919):
Das Unheimliche
https://www.reclam.de…Das_Unheimliche
E.T.A. Hoffmann:
Der Sandmann
etahoffmann.staatsbibliothek-berlin.de/portfolio-item/sandmann/
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.3.2021
Aktualisiert am 12.2.2022
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