
„Stimmen im Kopf“ – so lautet der Titel einer Dokumentation auf arte.tv. 10% der Menschen hörten Stimmen, heißt es dort. Kinder, die traumatisiert (z.B. sexuell missbraucht) wurden, haben eine relativ hohe Wahrscheinlicheit, als Erwachsene Stimmen zu hören. Während einer traumatischen Erfahrung kann es zu einer Dissoziation, also zu einer Flucht in eine andere innere Welt kommen. Das Dissoziierte kommt später möglicherweise als „Stimme“ zurück. „Jede Stimme war verbunden mit einem Gefühl“, sagt ein Betroffener. Es seien Gefühle aus der Kindheit gewesen. Die Stimmen im Kopf hängen mit Gefühlen und mit „inneren Objekten“ in uns zusammen, also mit dem inneren Bild von Menschen, die uns sehr nahestehen. Die Stimmen können häufig als ein Teil von unserem unerwünschten Selbst verstanden werden.
„Klar, ich war psychotisch, ich hörte Stimmen, aber ich konnte auch die abfälligen Bemerkungen hören, die die Krankenschwestern über mich machten.“ Catherine Penney in „Take these broken wings – Schizophrenie heilen ohne Medikamente, Youtube)
Wir alle kennen innere Gespräche – doch manchmal können sich unsere inneren Stimmen quasi selbstständig machen in dem Sinne, dass die Stimmen scheinbar ohne Kontakt zu unserem übrigen Fühlen, Denken, Wollen und zu unserer Muskulatur bestehen. Die Stimmen, die wir beim „Stimmenhören“ hören, geben oft Anweisungen oder Kommentare, aber es handelt sich um eine Art „dumme Stimmen“. Man kann mit ihnen nicht in Dialog treten, sie antworten meistens nicht. Das beschreibt Christopher Bollas in seinem Buch „Wenn die Sonne zerbricht“ (S. 129).
Nicht wenige Menschen haben schon einmal beim Einschlafen erlebt, wie sie hörten, dass ihr Name gerufen wurde. Es klingt, als sei da eine ganz normale Stimme außerhalb von uns – unverzerrt und klar. Die einst an Schizophrenie erkrankte Catherine Penney erklärt jedoch auch, dass sich die Stimmen manchmal wie ein „Wind“ in ihr anhörten. Auch der Lyriker Rainer Maria Rilke soll Stimmen gehört haben. Viele Betroffene leiden unter dem extrem starken Gefühl der Subjektivität, denn nur sie selbst hören die Stimmen – kein anderer.
Beim Stimmenhören werden die Hörzentren beidseits aktiviert, aber auch das linksseitige Sprachzentrum ist aktiviert. Das heißt, dass das Stimmenhören auch etwas „Aktives“ ist: Innerlich „spricht“ der Betroffene unbemerkt zu sich selbst, jedoch wird das Stimmenhören als etwas Passives erlebt – als etwas, das einem geschieht. Medikamente wirken auf Dauer nicht oder machen es gar schlimmer.
(Arte.tv: „Stimmen im Kopf“)
Oft ist unsere „innere Stimme“ unser Über-Ich, das uns kritisiert und uns sagt, was wir zu tun und zu lassen haben.
Eine besondere Erfahrung mit „Stimme“ macht man in der Psychoanalyse, denn hier liegt man als Patient auf der Couch, während der Analytiker hinter einem sitzt. Man hört also nur die Stimme des Analytikers. Das ist sozusagen eine eigene Form des „Stimmenhörens“. Die Stimme des Analytikers wird mit der Zeit verinnerlicht. Wir können nach einer Psychoanalyse mit uns selbst so sprechen, wie es der Analytiker in der Analyse einst getan hat.
Ob es Stimmenhören auch bei Gehörlosen gibt?
Stimmenhören bei Schizophrenie
Bei der Schizophrenie leiden die meisten Betroffenen unter Stimmenhören, selten nur unter optischen Halluzinationen. Wenn man bedenkt, dass psychotische Erfahrungen oft frühkindliche Erfahrungen sind, klingt das logisch: Im Bauch der Mutter und als Baby hörten wir als Erstes Stimmen, bevor wir irgendwann sehen und selbst sprechen konnten.
Wer psychotisch ist und Stimmen hört, erlebt häufig, dass die Stimmen Anweisungen geben („Töte ihn!“ „Antworte nicht!“). Doch die Stimmen lassen nicht mit sich reden – es ist meistens eine einseitige Kommunikation.
Die innere Stimme verweist vielleicht auf etwas Abgespaltenes und früher Geschehenes, aber sie wird vielleicht deshalb so laut, weil sie gegen das Nicht-Gehörtwerden rebelliert.
(Quelle: Christopher Bollas: Wenn die Sonne zerbricht, Verlag Klett-Cotta)
„‚Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht?‘
‚Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind.'“
(Johann Wolfgang von Goethe, 1782: Der Erlkönig)
Yoga kann bei Stimmenhören hilfreich sein
Beim Stimmenhören scheint das Gedachte und Gefühlte (vor allem die Aggression) vom Körper abgetrennt zu sein. „Ich habe den Schrank zerschlagen, weil mir eine Stimme das befahl“, sagt ein Patient. Hätte der Patient bemerkt, dass seine Gedanken mit dem Affekt der Wut und mit dem Gefühl von Muskelkraft verbunden sind, hätte er gemerkt, dass nicht die Stimmen den Schrank zerschlagen wollte, sondern dass es sein eigener Wille war. Hier kann möglicherweise Yoga hilfreich sein, denn Yoga verbindet Körper und Seele.
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Interssante Studie:
Rosen C. et al.
The tangled roots of inner speech, voices and delusions
Psychiatry Res. 2018 Jun; 264: 281–289
doi 10.1016/j.psychres.2018.04.022
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5972053/
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 13.3.2019
Aktualisiert am 26.7.2021
Melande meint
Ergänzung:
Ich habe im Internet nachgeschaut: Das bundesweite Netzwerk (Selbsthifegruppe) der „Nur-Stimmenhörer“ gibt es weiterhin:
– NeST, Netzwerk Stimmenhörer e. V.
Mit lieben Grüßen
Melande
Melande meint
Kurzer Kommentar:
Ich bin etwas verunsichert, da ich das Hören von Stimmen (in Verbindung mit oft Angstgefühl, als imperative Stimmen oder den Bereffenden beschimpfend, usw.) bei psychosekranken Menschen bisher immer getrennt habe von der Gruppe der „Nur-Stimmen-Hörer“, also ohne die sonstigen Symptome schizophreniekranker Menschen.
Sofern ich mich richtig erinnere, handelte der ARTE-Beitrag von 2019 auch von diesen „Stimmenhörern“, die oft/fast ständig von ihr Verhalten kommentierenden Stimmen begleitet werden. Es gibt (gab?) auch ein Netzwerk/eine Selbsthilfegruppe mit Sitz in Berlin zur Unterstützung der stimmen-hörenden Menschen.
Ich nehme mir vor, in meinen Unterlagen nachzuschauen, Man sollte diese zwei Gruppen (falls es so ist) nicht vermischen.
Liebe Grüße
Melande