
Für uns selbst können wir denken, machen, tun, was wir wollen. Zwar kann man sich auch vor sich selbst schämen, doch Scham tritt besonders dann auf, wenn andere Menschen hinzukommen. Wer sich schämt, befürchtet, verachtet zu werden und schuldig zu sein (Gerhart Piers und Milton Singer, 1953: Shame and Guilt: A Psychoanalytic and Cultural Study). Wir schämen uns, wenn wir merken, dass unser „Ich“ nicht dem „Ich-Ideal“ entspricht (Piers 1953). Scham entsteht, wenn wir angeschaut werden und erkannt werden in einer Situation, von der man sich wünscht, dass der andere uns so nicht gesehen oder wahrgenommen hätte. Bei der Scham fühlen wir uns ertappt. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Verwirrung
Es gibt mitunter verwirrende Gründe für Scham: Manche Menschen schämen sich unbewusst für einen Erfolg – vielleicht weil die eigenen Eltern weniger erfolgreich waren. Die Scham ist so unerträglich, dass man sich selbst strafen will. Es kann dann zu Niederlagen, Ängsten oder Unfällen kommen.
Auch die sogenannte „negative therapeutische Reaktion“, also ein Unbehagen des Patienten in der Therapie nach einer „guten Stunde“, kann durch Scham verursacht werden. Zuerst hat der Patient einen Fortschritt in der Therapie gemacht und dann folgt die innere Bestrafung für den Fortschritt.
Die Psychoanalytiker Burness Moore und Bernard Fine (Herausgeber) schreiben: „A parallel form of negative therapeutic reaction is attributable to unsonscious shame; every success has to be ‚paid for‘ at once by a kind of preemptive self-disparagement, provoked humiliation, and failure.“
„Eine parallele Form der negativen therapeutischen Reaktion kann auf unbewusste Scham zurückgeführt werden; Für jeden Erfolg muss sofort bezahlt werden und zwar durch vorsorgliche Herabsetzung des Selbst, provozierte Erniedrigung und Scheitern.“ Burness E. Moore and Bernard D. Fine: Psychoanalytic Terms and consepts, S. 84
Scham und Narzissmus sind verwandt
Besondere Angst vor dem Scheitern, vor Scham und Erniedrigung haben auch Menschen mit einer narzisstischen Störung. Wer in einem falschen Selbst lebt und wer davon lebt, von anderen bewundert zu werden, der fällt besonders tief, wenn das Wahre zum Vorschein kommt. Daher bezeichnet der Psychoanalytiker Andrew P. Morrison (1935-2010) die Scham auch als „Unterseite des Narzissmus“ (Shame: The Underside of Narcism, 1989). Der Psychoanalytiker Leon Wurmser sieht die Scham als „verhüllte Begleiterin des Narzissmus“ (Shame: The Veiled Companion of Narcissism, Leon Wurmser, 1987, Kapitel 2 in: Donald L. Nathanson: The Many Faces of Shame).
Shame = Scham, Fame = Ruhm. Wie eng die Begriffe aneinanderliegen!
Beobachten und beobachtet werden
Neugier ist eine der wichtigsten Eigenschaften, die wir haben. Kleine Kinder sind besonders neugierig, denn alles ist neu für sie. Ist ein Naseweis zu neugierig und wird er bei seinem Schauen entdeckt, so entsteht Scham. Besonders Menschen mit einer sozialen Phobie leiden unter Scham. Den Kampf zwischen Schauen-Wollen und Doch-nicht-Schauen-Wollen kann man in ihrem Gesicht sehen: Schüchtern und schamvoll blicken sie kurz den anderen an, um dann wieder rasch wegzuschauen. Der Blick geht schüchten hin und her.
„Ich habe mich zu Tode geschämt.“ Scham ist ein überwältigendes Gefühl.
Theatophilie und Delophilie
Leon Wurmser benutzt in diesem Zusammenhang die Begriffe „Theatophilie“ und „Delophilie“. „Theater“ leitet sich ab vom griechischen Wort „theastai“ = „anschauen“. Ein Theater ist ein Schauplatz. Die Theatophilie ist „das Verlangen zuzuschauen und zu beobachten, zu bewundern und sich faszinieren zu lassen“ (Leon Wurmser: Die Maske der Scham, The Mask of Shame, 1981).
Doch wir wollen nicht nur schauen, sondern wir wollen auch selbst im Mittelpunkt stehen. Während „Theatophilie“ die „Neugier“ ist, ist „Delophilie“ die Ausdruckslust. Es ist das „Verlangen, sich auszudrücken und andere durch Selbstdarstellung (self-exposure) zu faszinieren, sich ihnen zu zeigen und sie zu beeindrucken“ (Wurmser, 1981). Wenn das Schauen oder Angeschaut-Werden blockiert und gestört ist, entsteht Scham. Manchmal fühlt man sich durch den Blick des anderen wie versteinert.
Nach Sigmund Freud ist Scham eine „Macht, welche der Schaulust entgegensteht.“ Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905
Scham entsteht auch, wenn wir dem anderen etwas unterstellen, was er nicht ist. Wenn wir glauben, der andere sei so unberechenbar wie der eigene Vater, dann spüren wir irgendwie, dass wir dem anderen Unrecht tun. Das kann Scham erzeugen, doch weil diese sogenannte „Übertragung“ unbewusst ist, können wir die Scham bewusst keiner Ursache zuordnen.
Drei Formen der Scham (nach Leon Wurmser)
Manchmal wagen wir etwas nicht zu sagen oder zu tun, weil wir Angst vor der Beschämung haben. Die „Schamangst“ hemmt uns. Manchmal hält sie uns sogar davor ab, bestimmte Dinge zu denken. Die Schamangst steht also am Anfang. Die „Scham“ selbst, als das Schamgefühl, als der Schamaffekt, ist die Scham, die man in einer Situation aktuell erlebt. Schließlich gibt es die Scham auch als Charaktereigenschaft. Man zeigt sich gleich „gschamig“, um der eigentlichen Scham schon mal vorzubeugen, also um die anderen in gewisser Weise vorzuwarnen und sie zur Vorsicht zu bewegen nach dem Motto:
„Beschäm‘ mir nur ja nicht, ich weiß ja schon, dass ich mich schämen muss.“
Scham – kulturell unterschiedlich
In allen Kulturen spielt Scham eine große Rolle und in jeder Kultur muss man sich für etwas anderes schämen. Schamgefühle hängen wie Ekelgefühle oft eng zusammen mit oralen, analen und urethralen Themen, so Leon Wurmser. Es gibt Kulturen, die erziehen ihre Kinder besonders zur Scham. In unserer Kultur ist es das Ziel der Eltern, ihre Kinder zu Selbstbewusstsein und weitgehender Schamfreiheit zu erziehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir „schamfreier“ sind – vielleicht sogar im Gegenteil: Die Angst, sich doch noch schämen zu müssen, ist in einer „schamfreien“ Gesellschaft sehr groß.
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Dank an:
Jens L. Tiedemann:
Die intersubjektive Natur der Scham
Vierter Teil der Dissertation:
Scham aus intersubjektiver und realtionaler Sichtweise
15. Psychoanalytische Schamtheorien: der aktuelle Forschungsstand.
Freie Universität Berlin, Dissertation 2006
Jens L. Tiedemann:
Scham
Psychosozial-Verlag, 2013
Links:
Wurmser L (1986):
Die schwere Last von tausend unbarmherzigen Augen.
Zur Psychoanalyse der Scham und der Schamkonflikte.
Forum der Psychoanalyse 2: 111-133
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-642-97459-5_7
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 2.5.2015
Aktualisiert am 10.12.2020
Dunja Voos meint
Natürlich!
Melande meint
Kann ich mich auch für meinen Körper schämen, über den mir signalisiert worden ist, dass er …..nicht „in Ordnung/anziehend/schön und feminin“ ist?