
Auf einem Ärztekongress erzählt mir eine Kollegin, sie habe drei Kinder. Seit das jüngste Kind auf der Welt ist, gibt es eine Vorsorgeuntersuchung beim Kinderarzt, die es vorher nicht gab: die U7a. Sie vergaß diese U und erhielt prompt Post vom Jugendamt, mit der Aufforderung, zügig einen Termin beim Kinderarzt zu machen. Die Ärztin sagte, ihr Kind sei gesund und sie halte es nicht für nötig, die U7a wahrzunehmen. Daraufhin kündigte das Jugendamt an, sie zu Hause zu besuchen.
Einer ist „böse“ und viele leiden unter der Kontrolle
Es gibt sie öfter als man denkt: Familien, die weder ein noch aus wissen und in denen Kinder misshandelt, missbraucht, geprügelt, eingesperrt und vernachlässigt werden. Diese Familien befinden sich meistens in großer Not und hoffen auf ihre Weise auf Hilfe.
Doch viele haben schlechte Erfahrungen mit Hilfsangeboten gemacht – statt Hilfe erfuhren sie Kontrolle und Belehrung. Die Sorge, dass ihnen die Kinder weggenommen werden könnten, haben auch diese Mütter. Diese Familie verstecken und tarnen sich oft gut.
Es kann unglaublich schwierig sein, Familien ausfindig zu machen, in denen es Kindern nicht gut geht. Ein möglicher Weg mag die Kontrolle sein, worunter mitunter auch die „guten Eltern“ leiden, denn sie spüren das generelle Misstrauen. Ein besserer Weg wäre die Vertrauensbildung.
Die Worte fehlen oft bis ins Erwachsenenalter hinein
Gerade lese ich das Buch „Die geprügelte Generation“ von Ingrid Müller-Münch. Die Autorin beschreibt sehr plastisch, wie es Kindern aus misshandelnden Familien an Worten fehlt. Vielleicht erinnern wir uns selbst auch: Wenn wir als Kinder gedemütigt oder geschlagen wurden, brachten wir das wohl eher nicht zur Sprache.
In der Familie Gewalt zu erfahren, bedeutet für viele Wortlosigkeit.
Die Kinder halten es für „normal“. Außerdem sind sie eben noch Kinder – sie können nicht detailliert in Worte fassen, wie sie sich fühlen. Ältere Kinder wollen ihre Eltern auch bewusst oder unbewusst schützen, sie wollen sie keinesfalls „verraten“.
Liebeshäppchen werden begierig aufgenommen
Bei manchen Kindern aus Familien in Not ist die Sehnsucht nach Liebe so groß, dass sie die kleinen Liebeshappen zu Hause begierig auffangen und nach außen hin kaum zugeben können, dass sie nicht die Liebe und Fürsorge erhalten, die sie eigentlich erhalten sollten. Sie haben oft auch nur ein schwaches inneres Bild davon, wie es anders gehen könnte. Sie haben keinen Abstand.
Es ist wie mit anderen Schwächen auch: Unsere wirklichen Schwächen geben wir nicht gerne vor uns selbst und anderen zu. Erst, wenn wir gereift sind und „darüberstehen“ können, geben wir auch die ein oder andere Schwäche zu.
Die Familie soll bestehen bleiben
Wenn das Kind zugibt, dass es zu Hause Gewalt erfährt, dann befürchtet es möglicherweise, dass jemand kommt und es ins Heim steckt. Die Situationen der Kinder sind grundverschieden. Es wird Kinder geben, denen es zu Hause so schlecht geht, dass sie sich danach sehnen, dass sie da endlich jemand rausholt. Andere wiederum, vielleicht sogar die meisten, hängen an ihrer Familie und wollen sie nicht verlassen, so schlecht es ihnen auch geht.
Die „schlechten Eltern“ wiederum schämen sich. Viele haben Schuldgefühle und wissen nicht, wie sie aus Gewalt und Depression herausfinden sollen.
Auch sie haben Angst, möglicherweise ihre Kinder zu verlieren. Und so gibt es dann Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt, bei denen ein perfekt herausgeputztes Kind und eine äußerst ordentliche Mutter erscheinen – und niemand ahnt, in welcher Not sich die beiden zu Hause befinden.
Sprachlosigkeit bei der „U“
So, wie die „U’s“, also die Vorsorgeuntersuchungen, hierzulande ablaufen, ist es für die meisten Betroffenen nicht möglich, über ihre Aggressionen, ihren Hass, ihre Auswegslosigkeit und Hilflosigkeit zu sprechen. Die Kinder sagen höchstens, sie hätten Bauchweh – oder sie fallen auf, weil sie unruhig sind. Dann erhalten sie manchmal die Diagnose „ADHS“. Von dem, was wirklich helfen würde, sind wir meistens meilenweit entfernt.
Es müsste mehr Verständnis für „schlechte Eltern“ geben – sie bräuchten eine Atmosphäre, in der sie sich öffnen könnten.
Es ist ähnlich wie mit Suizidgedanken – Selbstmordgedanken haben wohl die meisten Menschen dann und wann. Doch darüber sprechen die wenigsten – zu groß ist die Angst, vom Arzt gegen den eigenen Willen in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Und so ist dieses Thema ein großes Tabu. Wirklich darüber zu reden ist aufgrund der Angst vor dem Aktionismus der Helfer kaum möglich.
Wir lernen noch
Trotz allem sind wir wohl auf einem guten Weg. Die Bemühungen, gefährdete, missbrauchte und vernachlässigte Kinder zu entdecken und Familien in Not zu helfen, sind ja da. Viele Eltern und Kinder nehmen die U’s dankbar an und machen gute Erfahrungen mit ihren Kinderärzten.
Doch erreichen Politiker durch die Bemühungen, Kinder in Not ausfindig zu machen, oft auch das Gegenteil: Die Familie gerät durch die Kontrolle so unter Druck, dass sich der Druck auf die Kinder, nichts nach außen dringen zu lassen, verstärkt. Dies sollte von den Helfern bedacht werden. Wenn es möglich wird, dass die Eltern bei den U’s echte Hilfe erfahren, dann wird sich das herumsprechen – und viele von denen, denen es schlecht geht, kämen dann freiwillig.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
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- Buchtipp: Die geprügelte Generation
- Sexueller Missbrauch im Nebel
Links:
Andrea Steinert:
Kinderärztliche Versorgung: Durchhalten im sozialen Brennpunkt
Dtsch Arztebl 2011; 108(46): A-2464 / B-2072 / C-2044
Meinungen von Müttern zur verpflichtenden U
http://www.rund-ums-baby.de/forenarchiv/kleinkind/U7a_19259.htm
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 5.4.2012
Aktualisiert am 29.9.2020
Dunja Voos meint
Liebe Liz,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Den Artikel habe ich schon vor einigen Jahren geschrieben. Ihr Kommentar enthält viel Wahres – ich habe den von Ihnen zitierten Satz gestrichen. Vielen Dank für’s aufmerksame Mitlesen! Dunja Voos
Liz meint
„Wir bräuchten psychologisch sehr gut geschulte Kinderärzte, die Gespräche außerordentlich gut bezahlt bekämen.“
Warum sollen KInderärzte psychologisch geschult werden? Warum sollen nicht (außerordentlich gut bezahlte!) PsychologInnen diesen Part übernehmen?
Es gibt viele sehr gut geschulte und auch auf Kinder/Familien spezialisierte (und leider tlw. arbeitsuchende und/oder unterbezahlte) PsychologInnen!
Die Erkenntnis (auch in der Ärzteschaft), dass Psychologie ihre Berechtigung hat, ist zwar angestiegen. Und die Ärzteschaft für psychologische Themen zu sensibilisieren ist natürlich sinnvoll – nicht aber, den ohnehin vielbeschäftigten ÄrztInnen berufsfremde Tätigkeiten zuzuschieben!