
In der psychoanalytischen Ausbildung sind viele noch auf eine Stelle in der Klinik angewiesen – entweder, um Geld zu verdienen oder aber auch, um Teile des Aus-/Weiterbildungskataloges zu absolvieren. Wer als angehender Psychoanalytiker in einer verhaltenstherapeutisch orientierten Psychiatrie arbeitet, der erlebt so manches als unverständlich, weil sich die Ansätze zwischen Verhaltenstherapie (VT) und Psychoanalyse so sehr unterscheiden. Die Ausbildung zum Psychoanalytiker z.B. bei der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) ähnelt in mancher Hinsicht einem geistigen Hochleistungssport. Das Leben wird bei vielen auf einmal von dieser Ausbildung bestimmt. Nie zuvor musste man sich mit sich selbst so sehr auseinandersetzen. In der Lehranalyse lernt man die eigenen Schwächen, Stärken, Wünsche und aggressiven Seiten kennen. Wenn man Patienten psychoanalytisch behandelt, stellt man sich immer wiedselbst er in Frage. Ein Supervisor und die Ausbildungsgruppe schauen kritisch mit auf die Behandlung.
Man spürt am eigenen Leibe, wie behäbig die Psyche ist, man kommt eigenen psychosenahen Zuständen und Ängsten auf die Spur. Man erfährt, wie „manipulativ“ und auch gewaltsam man unter Umständen selbst ist. Man lernt am Institut aber auch: In jeder Institution erfährt man Gewalt, die sich in Form von mehr oder weniger sinnhaften Regelungen zeigt, in Form von Unvereinbarkeiten (z.B. von Kinderbetreuung und Pflichtseminaren am Abend), knapper Zeit und hohen Kosten. In der Ausbildung wird man in vielerlei Hinsicht mit dem Leid und der Komplexizität des Lebens konfrontiert.
Alles braucht Zeit
Man spürt: Es ist alles nicht so einfach. Man lernt aber auch: Durch Warten entstehen und wechseln Gefühle. Gefühle bahnen sich ihren Weg. Es findet innere Entwicklung statt. „Helfen“ bedeutet oft auch „sein lassen“, Nichtstun, Zuhören, Verstehen. Man lernt, zu mentalisieren und zu verstehen, dass der Patient nur „manipuliert“, weil er hilflos ist, falsch verstanden wurde oder nicht weiß, wie er Gewünschtes vom Gegenüber erhalten kann.
Man lernt in der psychoanalytischen Ausbildung, sich als Therapeut „verwenden“ zu lassen.
Symbiose
Die Analyse spielt sich oft im vorsprachlichen Bereich ab, in dem man es mit rudimentären Affekten und Inszenierungen zu tun hat. Es geht therapeutisch häufig um die frühe, auch symbiotische Mutter-Kind-Beziehung, während die Psychiatrie meiner Erfahrung nach oft da ansetzt, wo der Patient schon ein inneres Alter von drei, vier oder fünf Jahren erreicht haben muss: In der Psychiatrie erwartet man von dem Patienten, dass er Verantwortung übernimmt und sich an Regeln hält, also man erwartet Dinge, die ein (inneres) Kind erst beherrscht, wenn es die Sprache erlernt hat und wenn es zudem verantwortungsvolle Eltern hatte, die ihm ein „Ich-Gefühl“ und ein Gefühl der Autorenschaft vermitteln konnten.
Die Psychoanalyse versteht schon die „frühe“ Psyche des Patienten und arbeitet mit ihr, während die Psychiatrie in der Regel sozusagen erst mit dem schon etwas „älteren inneren Kind“ arbeitet. Der angehende Analytiker hat Dinge an sich selbst und mit Patienten erfahren, die ein Psychiater oder Verhaltenstherapeut in seiner Ausbildung sozusagen natürlicherweise nicht erfährt, weil das Setting es nicht zulässt und weil sich die Therapie eher auf der Ebene des bewussten Denkens abspielt. Um die „frühe Psyche“ zu begreifen, braucht es die intensive Selbsterfahrung in der Beziehung – diese Erfahrung kann man in einer eigenen Lehranalyse machen.
Die Unterschiede in der Intensität der Ausbildung werden von Psychiatern und Verhaltenstherapeuten oft nicht anerkannt. Auch sie führen ein intensives Ausbildungs- und Berufsleben mit Leidenschaft und machen ebenfalls intensive Erfahrungen mit den Patienten. Und doch können sie oft nur schwer erahnen, was Analytiker meinen, wenn sie von ihren Erfahrungen, Sichtweisen und Therapieansätzen sprechen. Die Analyse ist in vielerlei Hinsicht etwas, das nicht „gelernt“ werden kann, sondern in der eigenen Lehranalyse erfahren werden muss und schlecht in Worte gefasst werden kann. Viele Analytiker haben die Psychiatrie kennengelernt, aber nur relativ wenige Psychiater lernen die Psychoanalyse kennen.
Der „Schulenstreit“
So ist der angehende Analytiker mit vielen Problemen konfrontiert: Er fühlt sich arrogant oder es wird ihm Arroganz unterstellt. Hier ist es jedoch wichtig, selbst offen zu bleiben, die Dinge auch von der anderen Seite zu betrachten und zu berücksichtigen, dass jeder Patient etwas anderes sucht und braucht und dass viele Alternativen auch einfach durch das „System“ nicht möglich sind.
Die Analyse lebt von der intensiven Einzelbeziehung zum Patienten. In der psychiatrischen Klinik aber geht es um das Zusammenwirken des Teams. Es ist die Umgebung, die den Patienten hält, die ihm Struktur gibt und ihm hilft.
Es kommt in einer psychiatrischen Klinik darauf an, dass das Team gut funktioniert und eine entwicklungsfördernde Atmosphäre herrscht. Hieran mitzuwirken erfordert vom angehenden Analytiker oft viel Kraft: Er muss sich zurücknehmen, er wird oft nicht verstanden und er spürt einen inneren Widerstand, wenn er sich die Therapiemethoden in der Psychiatrie anschaut.
Eckhart Tolle würde hier vielleicht sagen, dass man sich mit dem Widerstand beschäftigen und ihm keinen Widerstand leisten sollte.
Kulturunterschiede
Hinzu kommen oft die unterschiedlichen Ansichten zur medikamentösen Behandlung. Während der Analytiker die Alpträume des Patienten verstehen will, ist der Psychiater möglicherweise rasch damit befasst, die Medikamentendosis zu erhöhen. Auch kann es für ärztliche angehende Analytiker schwierig sein, in der Position zu sein, Medikamente verordnen zu müssen, obwohl er persönlich den Medikamenten skeptisch oder gar ablehnend gegenübersteht.
Die innere Kraft, die der angehende Analytiker in einer psychiatrischen Klinik aufbringen muss, erscheint manchmal enorm. Doch es verlangt auch dem psychiatrischen Team einiges ab, einen Analytiker zu integrieren. Es ist für alle Beteiligten ein gutes Übungsfeld: Man kann immer wieder üben, sich zurückzunehmen, zu beobachten, Ideenimpulse zu geben und aufzunehmen. Man kann lernen, Dinge mit ansehen zu müssen, mit denen man nicht einverstanden ist und die der eigenen tiefsten Überzeugung widersprechen. Oft kann man sich aber auch überraschen lassen, wenn sich zeigt, wie verschiedene Ansätze zu guten Zielen führen.
Wenn man als angehender Analytiker in einer psychiatrischen Klinik arbeitet, fühlt man sich mitunter wie ein schwarzes Schaf. Große „Kultur-Unterschiede“ werden spürbar und gehen einem mitunter ans Herz, z.B. wenn man schon wieder einen Patienten entlassen muss, weil er „sich nicht an die Regeln hält“, obwohl man mit ihm doch so gerne verstanden hätte, warum er das nicht konnte.
Es ist ein bisschen, wie wenn man verschiedenen Eltern bei der Erziehung zuschaut: Die einen sagen: „Jetzt ist Schluss!“, die anderen sagen: „Lass mich verstehen, was hier passiert.“
Es kann eine harte Schule sein, als angehender Analytiker in der Psychiatrie zu arbeiten – da gibt es Zwangsmaßnahmen und Elektrokrampftherapie, während man selbst einen ganz anderen Weg gehen will. Manchmal muss man schauen, ob man es noch erträgt oder nicht. Und auch das Klinik-Team kann an seine Grenzen geraten, doch es finden sich auch immer wieder gemeinsame, kreative Lösungen – das zu erleben, hat etwas sehr Befriedigendes und Bereicherndes.
Ich empfehle gerne die Bücher von Pema Chödrön: Sie ging in ein buddhistisches Kloster, um eine „bessere Welt“ vorzufinden und musste dann dort feststellen, dass es überall menschelt, dass es überall Machtkämpfe gibt und Dinge, die schwer zu verstehen, zu ertragen und mit anzusehen sind. Wer hier seinen Weg findet – egal, ob er aufgibt oder bleibt – kann als angehender Analytiker wachsen. Und manchmal ist eben auch die Klinik mit ihrer Bodenständigkeit, ihren praktischen Ansätzen und ihrer Leichtigkeit eine Erholung von der komplizierten Analyse. Verschiedene Kulturen kennenzulernen und nutzen zu können ist immer ein Gewinn.
Dunja Voos meint
Liebe Marine,
vielen Dank für Ihren Kommentar! Ich denke, ich verstehe, was Sie meinen und kann das gut nachvollziehen.
Ich stelle auch immer wieder fest, dass dem Patienten in der Psychiatrie die Verantwortung in dem Sinne „entzogen“ wird, indem ihm manchmal gesagt wird, er solle doch begreifen, dass es sich um eine Hirnstoffwechselstörung handelt, für die er quasi nichts kann. Es sei ein Zeichen der Selbstfürsorge, wenn er seine fest angesetzten Medikamente regelmäßig nehme und rechtzeitig nach „Bedarf“ (z.B. Beruhigungsmittel bei Unruhe) frage. Hier gerät die Verantwortung des Patienten tatsächlich aus dem Blick. Denn dazu bräuchte das Personal die Überzeugung, dass es eben nicht schicksalhaft am „Hirnstoffwechsel“ liegt, dass der Patient es auch selbst schaffen kann, sich zu beruhigen und dass der Patient sehr wohl weiß, was ihm gut tut und was nicht.
Viele Grüße,
Dunja Voos
Marine meint
Ich schreibe hier mal als ehemalige Psychiatriepatientin meine Sicht auf diesen Satz im Artikel
— In der Psychiatrie erwartet man von dem Patienten, dass er „Verantwortung übernimmt“ und sich „an Regeln hält“ —
Das zweitere stimmt meiner Meinung nach, man landet da in einer total kleinkarierten und völlig überreglementierten Umgebung, brrr.
Aber es wird meiner Erfahrung nach vom Patienten eben nicht erwartet, dass er Verantwortung übernimmt, und genau das ist das Entwürdigende an der Psychiatrie und der hauptsächliche Grund dass ich da nicht hingehe.
Sondern es wird vom Patienten erwartet, dass er Verantwortung abgibt ans Personal, und wehe er sträubt sich und will weiterhin ein Mensch auf Augenhöhe bleiben, da reagiert Psychiatriepersonal gerne allergisch. Der Patient soll Verantwortung abgeben, nicht übernehmen.
Ich will das nicht und aus diesem Grund gehe ich nicht in die Psychiatrie, mir reichts. Ich bin volljährig, will selber über meinen Körper (in der Psychiatrie herrscht latent immer die Drohung mit Zwangsmedikation und/oder Beantragung einer rechtlichen Betreuung) und über mein Leben bestimmen. Psychiatriepersonal und andere Helfer sollten mir bei diesem Anliegen helfen und es mir nicht ausreden wollen. Da sie das aber nicht tun, mache ich einen Bogen um die Psychiatrie.
Melande meint
Zu „Psychiatristontherun88“:
Hallo!
Warum „HALT!“ ?
Ein schönen Abend noch
wünscht
Melande
Melande meint
Guten Morgen.
Ich fühle mich sehr angesprochen und möchte dazu spontan sehr viel schreiben.
Erst mal aber nur:
Ich freue ich SEHR, dass ein konstruktiver Austausch/Zusammenbringen verschiedener therapeutischer Herangehensweisen angefangen hat.
Ich glaube, dass sich die Sichtweisen sehr zweckdienlich, d. h. zum Wohl und Weiterkommen der anvertrauten Patienten wechselseitig ergänzen und „befruchten“ können:
Wenn man „durch die verhaltenstherapeutische Brille“ schaut, beobachtet man dieses und jenes und leitet daraus einen therapeutischen Ansatzpunkt ab.
Wenn man „durch die psychoanalytische/tiefenpsychologische Brille (LEIDER GIBT ES DAVON m. E. VIEL ZU WENIGE, BESONDERS IM PSYCHIATRISCHEN KONTEXT!!) schaut, nimmt man Anderes oder Zusätzliches wahr, was quasi wie ein Katalysator ein Weiterkommen und Gesünderwerden das Lernen am Ergebnis (Wirkverhalten: Das tun wir alle, vom Anfang bis zum Ende des Lebens)
befördert oder erst möglich macht.
Was ich hier schreibe, ist natürlich (das ist klar) immer nur meine (subjektive) Meinung.
Liebe Grüße!
Melande
Dunja Voos meint
Danke für Ihren wohltuenden Kommentar! Ja, Psychiatrie ist sehr viel mehr als das, was in meinem Artikel steht …
Psychiatristontherun88 meint
Halt. Ich kann doch aber auch als Psychiaterin verstehen, dass sich jemand nicht an Regeln halten kann und nicht sofort mit Anzählen reagieren? Ich stimme vollkommen zu, dass ich sicherlich gar keine Zeit habe, da sehr lange Gespräche mit Patienten zu führen, wo man erstmal eine Kontaktfähigkeit erarbeiten muss, die ein Gespräch ermöglicht.
;-) Aber dennoch, Verständnis dafür, dass viele einfach nicht können, das habe ich auch. Ich erwarte ja auch zu Hause nicht, dass mein Kind immer kooperiert, weil ich auch weiß, dass sie manchmal einfach nicht kann, ich ja auch nicht. Warum sollte ich das von Patienten erwarten? Nur mal so, Psychiatrie ist auch noch mehr als das.