
Manchmal kann man sich überhaupt nicht in einen anderen einfühlen, der offensichtlich traurig ist und weint. Die Tränen fließen, das Weinen und die Trauer erscheinen echt, aber in der Stimme des Betroffenen schwingt noch etwas nicht Zuordenbares mit. Da weint jemand, weil er daran denkt, wie sein Großvater starb. Sagt er. In Wirklichkeit aber betrauert er in diesem Moment etwas ganz anderes. Vielleicht ist es sogar ein Heulen, weil der Betroffene gerade sauer auf seinen Gesprächspartner ist. Das, woran der Weinende bewusst denkt, stimmt nicht mit dem „wahren“ Grund überein, der gerade die Psyche bewegt. Dieses unverständliche Weinen ist wie eine Art „Dran-Vorbeiweinen“ am wahren Grund.
Vom Suchen und Finden der wahren Quelle
Wird der „wahre Grund“ des Weinens erfasst, kann man auf einmal mit dem anderen mitfühlen, mitschwingen und ihn verstehen. Der „wahre Grund“ ist jedoch oft zu schmerzlich, abstoßend, beängstigend, beziehungsgefährdend, beschämend oder peinlich, als dass er direkt benannt werden könnte. Aber man kann ihm auf die Spur kommen, wenn das „Dran-Vorbeiweinen“ erkannt wird.
Ein fünfjähriges Kind bekommt zu Weihnachten die schönsten Geschenke. Und doch wird es irgendwann traurig. Es weint und weint und beklagt sich, dass kein schönes Geschenk dabei sei. Schließlich errät die Mutter: „Was Du Dir eigentlich wünschst, ist, dass der Papa hier wäre.“ Die Mutter lag richtig. Sofort lässt sich das Kind in den Arm nehmen und wirklich trösten. Auch die Umstehenden können nun das zunächst unverständliche Weinen des Kindes verstehen.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 24.12.2014
Aktualisiert am 9.1.2019
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