
Viele Menschen mit einer Angststörung haben ein ganz besonderes Problem: Sie können sich nicht beruhigen lassen. Die Beruhigungsversuche der anderen fruchten nicht – im Gegenteil: sie beunruhigen nur. Ein Grund dafür mag sein, dass diese Menschen ganz bestimmte Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht haben: Die Person, die sie eigentlich beschützen und beruhigen sollte (der Vater/die Mutter), wurde für sie zur Gefahr.
Schlimmer noch: Wenn ein Kind gequält wird, z.B. die Vojta-Therapie erhält, dann reden die Erwachsenen oft beruhigend auf es ein. Die Erwachsenen sind dann gleichzeitig Misshandler und Tröster. Das Gefühl von höchster Gefahr brennt sich ein.
Wenn ein Kind sagt: „Ich höre ein Geräusch“ und die Eltern antworten ihm: „Ach Quatsch, da ist nichts“, dann bekommt das Kind den Eindruck, dass seine Gefühle es täuschen. Und dieser Eindruck macht Angst.
Wenn die Eltern nicht den Mut haben, mit dem Kind die Angst zu erforschen, dann fühlt sich das Kind alleingelassen. Kinder haben oft auch Ängste, die an den Ängsten der Erwachsenen zutiefst rütteln: Die Beschäftigung mit dem Tod macht oft auch den Eltern Angst. Wenn die Kinder merken: Hier verlässt mich mein Vater/meine Mutter, auch sie können die Angst nicht aushalten, dann beunruhigt das.
Wenn Eltern „schwach“ sind, kann das die Kinder schwer beunruhigen. Ein Beispiel: Der Vater trinkt und das Kind bemerkt: „Mein Vater hat ein Alkoholproblem.“ Die Mutter sagt: „Ach Quatsch, alle Männer trinken gerne abends mal ein Bier.“ Dann ist das Kind verwirrt und orientierungslos. Es erlebt: Wenn meine Eltern versuchen, mich zu beruhigen, dann steckt der Wurm drin. Echte Beruhigung sähe ansatzweise so aus: „Was Du wahrnimmst, ist wahr. Ich weiß auch noch nicht, was zu tun ist, aber ich möchte das Problem lösen.“
Sehr schwer haben es auch Kinder von Eltern mit extrem widersprüchlichem Verhalten.
Ein Beispiel: Eine Mutter liebt ihr Kind und kann es einerseits beruhigen. Andererseits geht von ihr immer wieder fürchterliche Gewalt aus. Die Mutter ist innerlich zerbrochen. Sie löst viele Ängste im Kind aus. Die Beziehung zur Mutter schadet dem Kind immer wieder. So merkt das Kind irgendwann: „Die Person, bei der ich Schutz suche, die eigene Mutter, ist die Person, von der Gefahr ausgeht.“ Solch einen furchtbaren Widerspruch erlebt so manches Kind. Sehr häufig reagieren diese Kinder auch als Erwachsene noch mit gemischten Gefühlen auf Beruhigungsversuche.
„Ich bin doch bei dir, Kind“, sagt die Mutter beruhigend.
„Eben das ist das Problem“, denkt das Kind.
Die Erfahrung, ernst genommen zu werden, heilt
Die Erfahrung, ernst genommen zu werden, müssen die Betroffenen in neuen Beziehungen oder in einer Psychotherapie oder Psychoanalyse erst einmal machen, bevor Beruhigungsversuche hilfreich sein können. Ansonsten werden sie sich immer fragen: „Was ist hier faul? Wo ist die Wahrheit? Wann kommt das böse Ende?“
Wenn jemand versucht, früh traumatisierte Menschen in ihrer Angst zu beruhigen, vermuten die Betroffenen oft, dass dann erst recht ein Grund zur Sorge besteht. Das ist den Betroffenen oft gar nicht bewusst. Sie spüren einfach nur, dass es ihnen noch schlechter geht, wenn jemand versucht, sie zu beruhigen.
Manche Betroffene verlieren diesen Argwohn nie. In einer Psychoanalyse hat der Betroffene die Zeit, langsam Vertrauen zum Psychoanalytiker wachsen zu lassen. Menschen, denen es schwer fällt, innere Beruhigung zu finden, machen oft erst in einer Psychoanalyse die Erfahrung, wie es ist, beruhigt zu werden. Sie lernen daraus mit der Zeit, sich selbst zu beruhigen.
Zusatzinformationen
Der Psychoanalytiker Wilfred Bion hat sehr schön beschrieben, woher tiefe Angst in uns rühren kann – es geht um existenzielle Fragen, die jeden betreffen. Wohl jeder kennt abgrundtiefe Angst, doch wenn die Beziehung zur Mutter bedrohlich war, ist es noch schwieriger, mit Unsicherheit und Nicht-Wissen umzugehen.
Wenn Alpha-Elemente „geboren“ werden
Im Blog-Beitrag „Was ist Bion’s „O“?“ zitiere ich Bion aus Grotsteins Buch „A Beam of Intense Darkness“. Ich finde, hiermit trifft Bion genau, worum es geht und wie Beunruhigung zustande kommt:
„O is the source of all anxieties and eternally hovers as the ‚emotional turbulence’“ (Bion, 1965: S. 48, Transformations, Karnac 1984; Grotstein S. 115). „O ist die Quelle aller Ängste und schwebt ewig als ‚emotionale Turbulenz‘ herum.“ … „As soon as O intersects with the subject’s emotional frontier, an alpha-element is born by virtue of the instantaneous activity of alpha-function.“ (Grotstein, S. 92) „Sobald ‚O‘ die emotionale Front durchkreuzt, ist ein Alpha-Element geboren, da die Alphafunktion augenblicklich aktiv wird.“ Bions Konzept von „O“ ist aus seinen früheren Ideen entstanden. „O“ kann nur gefunden werden durch Verbannung von „Memory, Desire, and Understanding“ (Erinnerung, Wunsch und Verstehen).
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.1.2013
Aktualisiert am 22.8.2019
Jay meint
Ich erinnere mich an eine Szene aus meiner Kindheit.
Mitte der 80er Jahre, ich, fünf oder sechs Jahre alt, bin mit meinem Vater im Wald.
Ich soll Fahrradfahren lernen – ohne Stützräder.
Ich fahre auf meinem Kinderfahrrad im Kreis und mein Vater hält mich hinten,
am Rahmen des Rades fest, damit ich mich sicher fühle und üben kann.
Während der Fahrt schaue ich nach hinten. Ich sehe mein Vater steht mehrere
Meter von mir entfernt und hat einfach losgelassen, ohne etwas zu sagen.
Ich falle sofort mit dem Fahrrad um.
Mein Vater will beschwichtigen: „Na siehst du, es geht doch!“
Ich fühle mich reingelegt. Das merke ich mir.
Christine Seiler meint
Ich finde, dass es beim Beruhigen oft wesentlich ist, dass der „Beruhiger“ selbst ruhig bleibt. Gerade heute habe ich als Erzieherin die Erfahrung bei einem Kind gemacht, dass man gar nicht viel „tun“ muss. Es reicht meistens, dem Kind zu signalisieren, dass man IN RUHE zuhört und die Trauer / Wut / Aufregung in dem Moment einfach akzeptiert.
Solitude meint
Ich kenne nur zu gut, dass mich die Beruhigungsversuche anderer eher wütend machen als mir helfen. Ich habe dann oft das Gefühl das eigentlich etwas vertuscht werden soll.
Ich bin letzte Woche im Krankenhaus wegen einer schweren Eileiterentzündung auf beiden Seiten operiert worden. Die Schmerzen, die ich deswegen hatte, haben Anfang Januar begonnen und wurden aber in der Zwischenzeit wieder schwächer. Sie waren konstant da. Eine mir selbst in Gedanken oft gestellte Frage war, ob ich mir die Schmerzen etwa nicht nur einbilde. Die dadurch entstandene Verunsicherung hat mich davon abgehalten mich noch intensiver darum zu kümmern als ich es ohnehin schon getan hatte und so kam es erst letzte Woche zu der Operation.
Ich erinnere mich sehr gut an den Satz meiner Mutter
„Das bildest du dir nur ein“ wenn ich Schmerzen hatte oder wenn ich etwas erzählte was ein schlechtes Bild auf sie werfen könnte, wie z.B. dass sie mich schlug, obwohl sie eigentlich ihre Kinder nie schlagen wollte und dementsprechend mit ihrem eigenen schlechten Gewissen nicht umgehen konnte. Sie war einfach als alleinerziehende Mama von zwei Kindern überfordert und konnte uns nicht erziehen. Erst als ich bereits 28 Jahre alt war hat sie zum ersten Mal zugegeben „dass ich sie manchmal schon heftig bekommen habe“.
Ich habe immer gewusst, dass sie lügt. Die Erinnerungen waren zu konkret und zu häufig. Zu offensichtlich war ihre eigene Ablehnung gegen das Schlagen ihrer Kinder. Wir haben oft hinterher zusammen geweint. Trotzdem hat sie oft gesagt, dass ich mir das nur einbilden würde oder es geträumt hätte und auch wenn ich immer dagegen kämpfte und ihr sagte, dass sie lüge, es hat seine Spuren in Form eines tiefen Zweifels in mir hinterlassen. So stark, dass ich mich in dann in Beziehungen wiederfinde in denen meine Grenzen nicht beachtet werde, weil ich sie nicht achte und ich mich bei Konflikten immer frage ob ich mir das nicht nur einbilde, ob ich nicht einfach hysterisch bin und auch ob ich „Nein!“ sagen darf.