Kaum war meine Crowdfunding-Aktion online. sah ich dankbar, dass schon jemand gespendet hatte: Es war Jeannette Hagen, Autorin, Journalistin und Coach. Und genau so ist sie: Immer aktiv. Sie sieht, wo die Not ist und handelt einfach. Sie könnte als Coach ja auch antworten: „Ich könnte Dir eine kostenlose Sitzung anbieten und mit Dir Entwicklungsstrategien erarbeiten.“ Aber das würde sie nicht tun, weil sie sieht, wo was hilft.
Hinfahren, handeln
Jeannette Hagen hilft regelmäßig in den Flüchtlingslagern in Idomeni und auf Lesbos. Und davon handelt ihr Buch „Die leblose Gesellschaft“: von ihren Eindrücken im Angesicht des Elends. Sie schrei(b)t ihre Verzweiflung heraus. Sie erzählt so, dass man mit ihr mitfühlen kann. Schnell wird klar, dass man nicht länger wegschauen kann, wenn man das Elend mit eigenen Augen gesehen hat. Das Problem ist nur: Viele sehen es nicht mit eigenen Augen. Sie können das Leid nicht riechen, hören, sehen, es erfasst ihre Sinne nicht. Jeannette Hagen kann nicht begreifen, wie es möglich sein kann, dass so viele Menschen auf der Flucht sterben. Wo sind die Helfer?
Fragen und Antworten
Ihre Reisen und Begegnungen mit Flüchtlingen, Helfern und Politikern werfen viele Fragen auf. Und sie findet viele plausible Antworten dafür, warum uns Mitleid und Empathie abhanden gekommen sind. Sie schreibt, dass die, die wegschauen, häufig selbst schmerzhafte Erlebnisse hinter sich haben. Sie erklärt, wie Kinder ihre Schmerzen abspalten, wenn sie mit ihren Bedürfnissen von den Eltern allein gelassen werden. Sie zitiert häufig den Psychoanalytiker Arno Gruen (1923-2015), der sich intensiv mit der Entstehung des „Bösen“ in unserer Psyche beschäftigt hat. Sie interessiert sich für die Psyche und die wahren Ursachen des fehlenden Mitgefühls.
Der Verdrängung auf der Spur
„Ein wichtiges Anliegen dieses Buches ist es, dem Mechanismus der Verdrängung auf die Spur zu kommen. Fragen nachzugehen, wie: Können wir nicht mehr fühlen? …. Wurde es uns aberzogen? Welche Rolle spielen … Sprache, Erziehung, Bildung und das Verhältnnis zu unseren Vätern?“ (S. 16). Eine Antwort, die sie immer wieder gibt, finde ich besonders interessant: Wir wollen nicht leiden, wir wollen keinen Schmerz, keine Frustration empfinden. Hier muss ich an den Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1978) denken, der psychische Gesundheit unter anderem definiert als die Fähigkeit, Frustration und Schmerzen zu ertragen. Stattdessen ist unsere Abwehr („das Militär“) aktiv. Hyperaktiv.
Neuen Sinn finden
Jeannette Hagen fordert uns auf, uns in Frage zu stellen: „Wir sollten uns nicht nur mit der Angst vor den eigenen Gefühlen auseinandersetzen, sondern auch damit, dass wir uns seit Langem weigern zu akzeptieren, dass unsere Lebensentwürfe unsere Seelen nicht nähren“ (S. 177). Ihr emotionales Buch hat mich erreicht. Und es wird sicher viele Leser und Leserinnen erreichen. Unbedingt lesen!
Links:
Jeannette Hagen:
Die leblose Gesellschaft
Warum wir nicht mehr fühlen können
Europa Verlag 2016
www.europa-verlag.com/buecher/die-leblose-gesellschaft
Blog von Jeannette Hagen:
Die Spaziergängerin, www.diespaziergaengerin.com
Schreibe einen Kommentar