William Shatner alias Captain Kirk, Sting, Ronald Reagan und auch Jean Jacques Rousseau, Beethoven und Martin Luther wissen und wussten, wie es ist, wenn es in den Ohren pfeift und rauscht: Tinnitus aurium ist keine neue Erkrankung, aber in den letzten Jahrzehnten hat die Zahl der Betroffenen ein geradezu pandemisches Ausmaß angenommen. In weiten Teilen der westlichen Welt sowie in Schwellenländern leiden Kinder, Jugendliche und Erwachsene an quälenden Ohrgeräuschen. In Deutschland gehen Experten von etwa sieben Millionen Betroffenen aus. Doch jenseits des persönliches Leidens, das mit den permanenten Ohrgeräuschen verbunden ist, stellt sich die Frage nach den Ursachen dieser weltweiten Phänomens – warum ist Tinnitus gerade jetzt so „in Mode“?
Die vertraute Welt ist erschüttert – und mit ihr der Mensch
Vor allem der globale Charakter fällt auf – und mit ihm der Zusammenhang zur Globalisierung. Weltweit überstürzen sich die wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Veränderungen und nehmen ein Ausmaß an, bei dem der Einzelne nur schwer mithalten kann. Innerhalb von wenigen Jahren werden alte, über Generationen gewachsene Gewohnheiten und Gewissheiten aufgelöst. Viele fühlen sich ohnmächtig und ausgeliefert, die vertraute Welt ist erschüttert, der Mensch selbst ist erschüttert. Dieser ständige Wandel bringt in starkem Ausmaß den Verlust des Vertrauten mit sich. Wo Vertrautes und Geborgenheit verloren gehen, entsteht eine unerträgliche Angst, der globalen Welt ausgeliefert zu sein; dies kann unter Umständen zu Depressionen führen. Das wissen wir von der Individualpsychologie, und Vergleichbares gilt auch für die Sozialpsychologie ganzer Gesellschaften.
In einer solchen zutiefst verunsichernden Situation reagiert der Einzelne oft mit einem Rückzug ins Private und in sein Inneres. Und welchen intimeren Ort gibt es als das Ohr? Das Ohr ist gleichzeitig Verbindung nach außen und liegt trotzdem zum großen Teil im Inneren, es lässt sich nicht abschalten und ist in der menschlichen Entwicklung bereits früh im Mutterleib vorhanden. Diesen Ort „sucht“ sich das Unbewusste, um sich zurückzuziehen von der Welt, von der es „nichts mehr hören will“.
Der Tinnitus verschließt das sinnliche Hören
Natürlich hört der Mensch weiterhin mehr oder weniger gut, aber das konkrete leibhaftige Dröhnen im Tinnitus verschließt das sinnliche Hören. Das sinnliche Hören geht über die konkrete Akustik hinaus, das Gehörte wird ästhetisch erlebt. Ähnlich wie beim Schmecken geht es nicht nur um den physiologischen Vorgang, sondern auch um ein sinnliches Erleben.
Die modernen Konflikte führen zu einer Spaltung der physiologischen von der ästhetischen Sinneserfahrung – ein Abwehrmechanismus zum Schutz der verängstigten Seele. Die Sinnlichkeit geht dabei verloren. Einzelne Sinne werden verstärkt, während andere in den Hintergrund gedrängt werden. So verschwindet das sinnliche Hören zugunsten eines rein mechanisch-konkreten Hörens sowie einer visuellen Wahrnehmung der Welt. Eine Bilderflut prasselt täglich von allen Monitoren, Bildschirmen, Werbetafeln auf uns ein und ist innerpsychisch nicht zu verarbeiten. Demgegenüber verliert sich das Hören. Ein Lauschen auf Empfundenes und Phantasiertes scheint erschwert.
Unbewusste Angst führt zu körperlichen Symptomen
Die Entwicklungskrise der Moderne verunsichert zutiefst. Allerdings kann diese Angst vom Einzelnen nicht bewusst verarbeitet werden – sie ist im Wesentlichen „unbewusst“. „Unbewusst“ bedeutet, dass es nicht willentlich verändert, manchmal noch nicht einmal benannt werden kann, aber dennoch innere Wirkungen hat. Solche unbewusste Konflikte führen unter anderem zu körperlichen Symptomen. Die Psychosomatik kennt zahlreiche Beispiele dafür.
Gibt der Leidende nun die Verantwortung für sein körperliches Symptom an die Medizin ab, die mit Hightech und Pharmazeutika die Erkrankung aus der Welt schaffen will, fühlt sich der Betroffene zunächst erleichtert. Eine bewusste Verarbeitung seiner individuellen unbewussten Ängste ist das jedoch nicht. Dabei steckt hinter jedem Symptom ein unbewusster Ausdruck von ganz eigener Subjektivität, von individuellem Erleben.
Das eigene Empfinden ist dem modernen Menschen fremd
Der moderne Mensch hat sich also selbst von seinen sinnlichen und emotionalen Empfindungen entfremdet. Und gerade in einer solchen Phase meldet sich ein Sinn unüberhörbar und lässt sich nicht so einfach zum Schweigen bringen: der Hörsinn in Form einer Erkrankung, eines Symptoms, nämlich Tinnitus.
Die Symptomatik hat bei jedem Menschen immer ganz persönliche Ursachen, die mit der persönlichen Lebensgeschichte zu tun haben. Insofern lässt sich der Mensch nie auf einen Teil wie das Ohr oder Gehirn reduzieren, der Mensch steht als Ganzes im Leben. Deshalb sollten bei der Betrachtung des Tinnitus sowohl das individuelle Erleben als auch die gesellschaftliche Dimension berücksichtigt werden. Denn es ist nie ohne Grund, dass jemand ein Ohrgeräusch bekommt – es hat dem Betroffenen etwas zu sagen, und es hat der Gesellschaft etwas zu sagen.
„Machen Sie das bitte weg!“
Auf der individuellen Seite ist es wichtig, das Signal Tinnitus zu entschlüsseln. Doch das ist nicht einfach: Häufig sind Menschen vom Tinnitus betroffen, die nur schwer über sich und ihre Empfindungen sprechen können. Viele Betroffene fühlen sich verfolgt und bedroht vom Tinnitus, weil sie keinen Zugang zur Symptomatik über eine emotionale Sprache finden. Anfangs sprechen die Menschen über Tinnitus wie von einem Fremdkörper, der nicht zu ihnen gehört und beseitigt werden soll. Sich selbst und den Tinnitus erleben sie wie ein Ding im Ohr und formulieren es so: „Gucken Sie mal, wie Sie das wegkriegen.“ Das ist jedoch wirklich nicht einfach.
Manchmal muss man erst lernen, Gefühle in Worte zu fassen
Nach psychoanalytischer Erfahrung dauert es, bis ein Mensch über seine Empfindungen und das, was ihn gefühlsmäßig bewegt, sprechen kann. Vor allem, wenn dahinter eine versteckte Depression steht, wie beim Tinnitus oftmals zu vermuten ist. Weil aber der Tinnitus sich zunächst auf rein köperlicher Ebene äußert und für eine sinngebende Sprache weniger fassbar ist, macht er vor allem Angst. Diese Angst auszuhalten, sich von der Symptomatik berühren zu lassen, sie kennenzulernen, Intervalle und Rhythmen zu erleben, das kann in einer psychotherapeutischen Beziehung einen rudimentären Zugang zu einem Verständnis eröffnen.
Der Tinnitus hängt mit der eigenen Lebensgeschichte zusammen
Der subjektive Tinnitus hat also immer etwas mit dem persönlichen Erleben zu tun, damit, was das Individuum in seiner persönlichen Lebensgeschichte erfahren hat, wie es damit umgegangen ist, was andere aus ihm bzw. mit ihm gemacht haben. Daher kann der Tinnitus verstanden werden als eine Nachgestaltung dessen, was die Lebensgeschichte aus einem Menschen gemacht hat. Diese akustische Nachgestaltung kann verstanden und „gehört“ werden. Dabei hat jeder Mensch seinen eigenen Bedeutungszusammenhang.
Durch Sprechen lassen sich innere Spannungen abbauen
Psychotherapeuten haben beobachtet, dass Sprechen die inneren Spannungen und Ängste abbauen hilft, weil Sprache ordnet, sortiert und Zusammenhänge herstellt. Das depressive Geschehen hinter dem Tinnitus kann auf diese Weise verstanden und aufgelöst werden, der dahinter stehende Konflikt zur Sprache kommen. Wenn die Sprache dann verbunden wird mit der Lebensgeschichte, macht sie Sinn für den Menschen. Diese Reduzierung von Spannungen bedeutet weniger Druck im Inneren. Dadurch können auch die Ohrgeräusche reduziert werden: Tinnitus wird sinnlich wahrgenommen, das Hören muss nicht mehr nur konkret bleiben. Wenn ein Mensch mit seinen Ohr-Geräuschen im Sinne eines Erlebnisses umgehen kann, dann bekommt das Geräusch einen Platz in seiner Lebensgeschichte. Diese wird erzählbar, und das Geräusch kann unter Umständen wieder gehen. Nicht weghören, sondern hinhören, was der Tinnitus zu sagen hat, ist daher oft wirkungsvoller. (Autor: Michael Tillmann, 12.4.2012)
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Tinnitus und die Psyche
Die Angst des Psychoanalytikers vor Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit
Schwindel und der Weg zu neuem Halt
Die Polyvagal-Theorie (PVT)
Weiterführende Literatur:
Tillmann, Michael:
Tinnitus – Gesellschaftliche Dimension, Psychodynamik, Behandlungskonzepte
Psychosozial-Verlag 2010
Tillmann, Michael:
Ich, das Geräusch
Ein Ratgeber für Tinnitus-Betroffene
Psychosozial-Verlag 2009
Dieser Beitrag erschien erstmals am 12.4.2012
Aktualisiert am 26.2.2016
Micha Ohnsorge meint
Hallo,
ich habe auch jahrelang unter meinem Tinnitus gelitten. Erst mit den Übungen von Maria Holl, die die Tinnitus-Atemtherapie entwickelt hat, war ich in der Lage meine Töne in den Griff zu bekommen und lernte, die Intenität zu senken. Es hat mehrere Wochen gedauert und die Übungen fühlen sich zu Anfang seltsam an, aber mir haben sie geholfen. Hier mein Tipp – alles Gute
Micha
http://www.maria-holl.de/tinnitus-atemtherapie-tat.html