Verstehen statt kämpfen. Kommentar zu Frank Stachs Beitrag „Angriff auf die Pressefreiheit“
Frank Stach, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes Nordrhein-Westfahlen, hat im „journal DJV NRW“ (1/2015) ein Editorial zum Thema „Pressefreiheit“ geschrieben, die eine Journalisten-Meinung widerspiegelt, die wir in den letzten Wochen häufig gehört haben. Stach beginnt seine Argumentation mit Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Unter anderem steht dort geschrieben:
Entscheidend sind hier sicher die Worte „ohne Rücksicht auf Grenzen“. In unserer westlichen Welt ist das ein Ideal. Wir fühlen uns sicher, wenn es so ist. Unser Ideal ist die „freie Gesellschaft“ und wir sind überzeugt davon, dass die freie Gesellschaft nur dann sicher ist, wenn es Pressefreiheit gibt. „Und gerade repressive Staaten unterlaufen dieses Recht“, schreibt Frank Stach. Ja, so könnte man sagen. Aber vielleicht fragen sich die „repressiven Staaten“ ja auch: Warum kennen die „freien Gesellschaften“ keine Grenzen? Wahrscheinlich haben die meisten von uns Bilder davon im Kopf, wie Menschen in repressiven Staaten gefoltert und unterdrückt werden. Aber das werden sie auch in offiziell nicht-repressiven Staaten.
Unterdrückung
Wichtig ist es doch, zu verstehen, woher die Unterdrückung kommt. Wenn Eltern ihre Kinder misshandeln, macht man durch Kontrolle und Moralisieren alles nur schlimmer. Damit den misshandelten Kindern geholfen werden kann, ist vorsichtige Annäherung, Verstehen und Entlastung der Eltern notwendig. „Wir wollen sagen und zeigen, was ist“, schreibt Frank Stach. Ja, das ist unsere Sichtweise. Legt man jedoch verschiedene Zeitungen nebeneinander, wird das, was „ist“, auch schon mal fraglich.
Kulturelle Sichtweisen
Hilfreich wäre es, sich mit den Themen Angst und Scham und mit kulturellen Sichtweisen auseinandersetzen. Wenn es andere so sehr stört, wenn wir hier unsere freie Meinung äußern, dann könnten wir doch auch fragen: Warum? Manche Karikaturisten machen nach dem Angriff auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ nun extra übertrieben weiter, aus einer Kampfeshaltung heraus. Sind sie da nicht auch ein wenig „radikal“? Man kann Karikaturen unterlassen aus Angst, aber auch aus Respekt vor einer anderen Kultur.
Frank Stach schreibt: „(Islamistische Demonstranten) müssen aber auch aushalten, dass ihnen ihre Meinung gespiegelt wird.“ Müssen sie? Psychischer Schmerz ist ebenso groß wie körperlicher Schmerz. „Unsinn bleibt halt Unsinn“, schreibt Frank Stach. Genauso gut könnte diesen Satz die „Gegenseite“ schreiben. Was ist Unsinn, was ist Wahrheit?
Das Unbewusste spielt eine wichtige Rolle
Ein Psychoanalytiker erzählte kürzlich von einem psychotischen Patienten, der erzählte, was er erlebt hatte. Er erzählte fünf Psychiatern fünf unterschiedliche Geschichten. Welche war wahr? Nunja, es stellte sich heraus, dass der Psychotiker ein großes Vermögen hatte, das „Unbewusste“ des anderen zu erfassen. Er erzählte seine Geschichten so, dass sie bei dem jeweiligen Psychiater „ankam“. Er hatte sich so sehr auf sein Gegenüber eingestellt, dass es scheinbar an jeglicher „objektiven Wahrheit“ fehlte.
Subjektive Wahrheit geht oft über Realität
Diese subjektiven Wahrheiten spielen aber in unserer Welt eine ebenso große Rolle wie die objektiven. Was verletzt mich? Wo überschreitet jemand meine Grenzen? Diese Fragen stellen wir uns doch täglich. „Dass die Kritisierten in der Folge … ‚Lügenpresse‘ skandieren, zeigt den Geist, der da die Flasche verlassen hat“, schreibt Stach. Ja, in der Tat. Der Geist wird da sichtbar. Er will erfasst, befragt, verstanden, aber nicht verurteilt werden. Was wird als Lüge, als Verletzung empfunden? „Wir Journalisten sind wehrhaft und ziehen uns nicht zurück“, schreibt Stach für die westliche Seite. Die andere Seite sagt dasselbe. Und schon haben wir den schönsten Kampf.
Vogelperspektive
Vielleicht ist die Lösung, eine dritte Perspektive einzunehmen. Eine fragende, innehaltende. „Halt, was ist passiert? Wie ist das alles hier zustandegekommen?“, könnten wir fragen. Oder wie die Schriftstellerin Safi Nidiaye sagt: „Denn es geht ja bei allem letztlich nur um Gefühle.“
Ich jedenfalls fühle mich einerseits sicher, wenn ich Beiträge wie die von Frank Stach lese. Sie spiegeln auch meine Meinung wider, weil ich hier in dieser Kultur aufgewachsen bin und ich finde, dass man das Recht auf die Pressefreiheit gar nicht hoch genug einschätzen kann.
Und doch weiß ich, dass dies ein Wert ist, den ich habe, weil ich hier aufgewachsen bin. Weil es mir gut geht damit und ich damit gute Erfahrungen gemacht habe. Andererseits bereiten mir Artikel wie die von Frank Stach immer auch ein wenig Unbehagen, weil es eben ein Einlullen in Altbekanntes ist. Frank Stachs Meinung ist das „Zuhause“ für vielleicht die meisten Journalisten. Und doch ist es wichtig, das Fremde, das Angst macht, anzuschauen.