Angst vor dem ewigen Leben, Angst vor der Unendlichkeit (Apeirophobie)

„Ich dachte, ich muss in die Notaufnahme oder mich umbringen“, erzählt eine Frau, die an der Angst vor dem ewigen Leben leidet (The Atlantic). Der Autor Bobby Azarian leide unter dieser Apeirophobie seit er vier Jahre alt war – als seine Mutter ihm nach dem Versterben des Opas erzählte, dass er nun fröhlich im Himmel weiterlebe (The Atlantic, 1.9.2016). Manche Menschen bekommen diese Angst mit Psychotherapie, Psychoanalyse und/oder Medikamenten in den Griff, aber viele haben bisher keinen Weg gefunden, um diesen „existenziellen Terror“ zu lindern (Azarian, 2016).

Wenn in der Vorstellung der Tod weder Erlösung noch Ende bedeutet, kann einen das nahezu verrückt machen. Es mangelt an der Vorstellung von Ruhe. In einem Online-Forum schrieb eine junge Frau: „Der Gedanke daran, dass das alles keinen Anfang und kein Ende hat, macht mich einfach fertig.“ Einerseits ist da das Gefühl, keine Grenze zu sehen. Andererseits plagt das Gefühl, die eigenen Körpergrenzen und das eigene Bewusstsein im umgrenzten Selbst zu spüren.

Bei der Angst vor dem ewigen Leben besteht einerseits das starke Gefühl, dass diese Vorstellung der Realität entspricht. Wenn Du betroffen bist, dann hast Du die Erfahrung von „ewiger Qual“ vielleicht bereits als Kind gemacht. Wenn Du in der Babyzeit ganz real quälenden Situationen ausgesetzt warst (z.B. durch medizinische Maßnahmen wie z.B. der Vojta-Therapie), dann hast Du erfahren: „Wenn ich hilflos bin, dann kann mir ganz Schreckliches passieren.“ Und als Baby hattest Du wahrscheinlich noch ein ausgedehnteres, unklareres Zeitgefühl – das Leid erscheint dem Baby möglicherweise unendlich. Doch auch als Erwachsene haben wir in der Not mitunter ein Gefühl von „Das hört nie mehr auf.“

Über Blaise Pascal, 17th Century (Pensees) schreibt Bobby Azarian:
„Both, infinite space and time shook him to the core.“
„Beides: unendlicher Raum und unendliche Zeit erschütterten ihn bis aufs Mark.“
Bobby Azarian, The Atlantic: Apeirophobia – The Fear of Eternity, 1.9.2016

Einerseits hast Du vielleicht das Gefühl, die Ewigkeit sei Dein „wahrer Kern“. Einerseits ist sie das auch: Unser tiefes Unbewusstes (Deep Unconscious) ist zeitlos. Andererseits spürst Du aber vielleicht auch, dass die Realität anders aussehen könnte, denn Du denkst vielleicht: „Wenn dieses schreckliche Gefühl der Angst vor dem ewigen Leben nach dem Tod nicht aufhört, dann bringe ich mich um.“ Was ist das? Ein Paradox? Ein Wunsch nach Realitätsprüfung? Eine tiefe Hoffnung? Eine Ahnung, dass es noch ein Ende geben könnte?

Wie bei anderen Phobien auch könnte die Phobie vor einem ewigen Leben nach dem Tod ein Symbol sein. So wie die Angst vor Spinnen in Wirklichkeit eine ganz andere Angst darstellen kann, so kann auch die Apeirophobie ein Hinweis auf eine andere Angst haben. Menschen, die früh im Leben von nahestehenden Menschen Gewalt erfahren haben, können unter der Angst vor Ewigkeit leiden, weil die Gewaltsituation selbst scheinbar zeitlos ist. (Peiras = altgriechisch: Grenze, Ende)

Im Alter kann es besser werden

Oft werden junge Menschen von der Angst vor der Unendlichkeit gequält – wenn wir körperlich gesund sind und voller Energie stecken, können wir uns auf unangenehme Weise unsterblich fühlen. Werden wir älter oder konkret körperlich krank, können wir unsere Grenzen besser spüren und die Angst vor der Ewigkeit kann zurückgehen.

Wenn Du Dich als Kind nie abgrenzen durftest oder es in der Familie keine Grenzen gab, wird Deine Angst vor der Grenzenlosigkeit logisch. Auch können Familienthemen rund um „Grenzen“ (Eigentum, Ländergrenzen, Flucht, Krieg) eine Rolle bei der Angstentwicklung spielen.

Die Angst vor der Ewigkeit erinnert an einen Zwang: Immer wieder musst Du vielleicht an Deine Angst vor der Unendlichkeit denken, denn wir sterben ja alle und können dem Tod nicht aus dem Weg gehen. Wenn Dich ein Gedanke beruhigt, fällst Du vielleicht gleich wieder in den nächsten beunruhigenden Gedanken – so, als ob Du etwas verpassen könntest.

Bei einer Zwangsstörung entsteht oft das Gefühl, dass etwas vollendet werden muss: Wenn wir eine Tonleiter nur sieben Töne weit spielen und den achten Ton nicht spielen, dann bekommen wir den komischen Drang, dass wir den achten Ton noch hören möchten, um uns vollständig oder erlöst zu fühlen.

Bei der Apeirophobie ist es ähnlich: Immer, wenn wir gedanklich fast ans Ende kommen, geht es weiter und wieder weiter. Es ähnelt dem Gefühl des „Spiegels im Spiegel“. Die Unendlichkeitsangst kann auch mit Themen zusammenhängen, die wir „nie“ vollbringen können. Beispielsweise können wir als Tochter „niemals“ den Vater heiraten oder als adoptiertes Kind „niemals“ ein leibliches Kind werden. Der Wunsch ist „ewig“. Das Ende wäre die Bewusstwerdung des Wunsches, der nie in Erfüllung geht und die Trauer darüber.

Eine unsterbliche Seele?

Viele stellen sich vor, dass der Mensch einen sterblichen Körper, aber eine unsterbliche Seele habe. Dadurch kann sich die Angst vor der Unendlichkeit verstärken. Kirchenbesuche, in denen über das ewige Leben gepredigt wird, können hier zum echten Problem werden. Andere Menschen haben die Vorstellung, dass auch die Seele sterblich ist, wie ich es z.B. einmal von Jiddu Krishnamurti (1895-1986) auf Yotube hörte . Wieder andere stellen sich vor, dass Körper und Psyche eng zusammenhängen, dass es aber einen davon unabhängigen Geist gibt, der uns atmen und leben lässt.

Die Angst vor dem Leben nach dem Tod hängt eng mit der Frage nach dem Bewusstsein zusammen. Der Mathematikprofessor Marcus du Sautoy aus Oxford hat hierzu eine wunderbare BBC-Dokumentation gedreht mit der Frage: „Bin ich ich?“ (BBC: Just what does make me ‚me‘?).

Die Angst vor der Unendlichkeit hängt zusammen mit der Frage „Wer bin ich?“, aber auch mit der Frage: „Wo bin ich?“

Manches verliert seinen Schrecken dadurch, dass uns etwas bewusst wird. Anderes wird uns erst gerade durch die Bewusstwerdung zum Schrecken. Das Erschreckende müssen wir erst einmal verdauen. Die Unendlichkeit macht vielen Menschen dann Angst, wenn sie wach sind und darüber grübeln, aber eher selten, wenn sie schlafen. Im Schlaf ist das wache Bewusstsein ausgeschaltet. Die Angst vergeht. Also könnte man auch sagen: Das Bewusstsein ist das Problem. Das Grübeln über die Unendlichkeit ist das Problem.

Natürlich führen sich Zahlen bis ins Unendliche fort und man könnte, rein theoretisch, bis ins Unendliche zählen, aber die Grenze ist doch deutlich: Das Zählen ermüdet uns und dadurch kommen wir eben nur so weit, wie wir kommen. Wir hören einfach irgendwann mit dem Zählen auf.

Sind Nahtoderfahrungen ein Beweis für die Unendlichkeit?

Menschen mit Nahtoderfahrungen erzählen oft davon, wie unbeschreiblich wohl sie sich gefühlt haben, als sie klinisch tot waren. Aber es gibt auch Menschen mit Nahtoderfahrungen, die sich wie in einem Horrorfilm gefühlt haben – von ihnen hört man seltener. Viele Menschen haben während notfallmedizinischer Behandlungen Nahtoderfahrungen gemacht. Ich möchte die Erfahrungen der Betroffenen nicht schmälern, aber ich möchte hier auch beruhigende Argumente finden für diejenigen, für die die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod nur schrecklich ist. Die Medikamente, die ein Patient während einer Wiederbelebung bekommt, können im Gehirn viele Empfindungen hervorrufen. Wer einmal das Narkosemedikament Propofol bekommen hat, weiß, wie „entrückt“ und unglaublich wohl man sich fühlen kann. Auch können Nahtod-ähnliche Erfahrungen nach jahrelanger Mediationspraxis während der Meditation auftreten. Der Sterbeforscher Gian Domenico Borasio schreibt in seinem Buch „Über das Sterben“, dass er bei seinen Beobachtungen von Sterbenden keine Hinweise auf Nahtoderfahrungen finden konnte.

Wir tragen das Gefühl der Unsterblichkeit in uns

Unser Unbewusstes ist gefühlt „unsterblich“ bzw. „unendlich“. Es enthält Angeborenes, aus der frühesten Kindheit Eingeprägtes und zunehmend auch Verdrängtes. Als Baby und Kleinkind haben wir kein bzw. ein anderes Zeitgefühl – Momente erscheinen wie Ewigkeiten. Zu Beginn des Lebens wird ein Lebensgefühl installiert. So, wie wir uns in der vorsprachlichen Zeit fühlten, so fühlen wir uns manchmal noch als Erwachsene. Hatten wir eine bedrohliche Kindheit, ist dieses Unendlichkeitsgefühl dann besonders stark mit Bedrohung verknüpft.

Das Unendlichkeitsgefühl ist eng verbunden mit dem – wie Freud es nannte – „ozeanischen Gefühl“ der Grenzenlosigkeit. „Diese immer regen, sozusagen unsterblichen Wünsche unseres Unbewussten … – diese in der Verdrängung befindlichen Wünsche, sage ich, sind aber selbst infantiler Herkunft.“
Sigmund Freud, Traumdeutung, Psychologie Fischer, 2003, S. 544

Die Grenze spüren heißt: sich wieder sterblich fühlen

Manche alte Menschen sagen, dass sie in jungen Jahren den Tod (und das mögliche Leben danach) sehr viel mehr fürchteten als im Alter. Möglicherweise fühlt man sich im Alter gebrechlicher und man spürt die Grenze deutlicher. Vielleicht hat man auch genügend haltgebende Beziehungen erlebt und man kann leichter loslassen. Viele alte Menschen glauben nicht an ein Leben nach dem Tod oder an ein unendliches Leben. Wer Angst vor der Unendlichkeit hat, dem geht es möglicherweise besser, sobald er sich wieder sterblich fühlt, sobald er in Kontakt ist zu seinen Gefühlen kommt und sobald er am Ende der Ausatmung angekommen ist. Wenn wir eine dicke Erkältung haben, kann uns die Unendlichkeit auf einmal ganz egal sein.

Die Angst vor der Unendlichkeit kann paradoxerweise einen großen, aber vielleicht unterdrückten Lebenshunger widerspiegeln.

Der Begriff „Ewigkeit“ lässt uns an eine unendliche Zeit auf einem Zeitstrahl denken. Das macht vielen Angst. Der englische Begriff „Eternity“ ist da vielleicht hilfreich, denn er leitet sich vom „Äther“ ab, also von etwas, das uns sozusagen umgibt. Das Wort „Eternity“ erweckt eher die Vorstellung eines „Nestchens“.

Das Unendliche in uns

Wer Angst vor der Unendlichkeit hat, dem helfen vielleicht die Vorstellungen des Psychoanalytikers Wilfred Bion (1897-1979). Er beschäftigte sich mit dem Unendlichen in uns selbst. Vereinfacht gesagt stellt das Unbewusste das Unendliche dar und das Bewusste das Endliche. Bion beschrieb es ungefähr so, dass in uns selbst unendlich viele unbewusste Eindrücke sind, sozusagen Vorläufer von Gefühlen (Beta-Elemente). In uns spüren wir sozusagen etwas Göttliches, eine große Tiefe, etwas Unfassbares. Diese Tiefe kann auch als etwas Körperliches aufgefasst werden: Unser Verdauungstrakt ist „tief“ und nach beiden Seiten hin offen. Bion führte den Gedanken von „O“ ein, womit er unter anderem „Wahrheit“ meinte.

Die Beta-Elemente der Psyche können zu reifen, handhabbaren Alpha-Elementen werden, wodurch das, was vorher „unendlich“ war, endlich wird.

Aus einer spürbaren „unpersönlichen Wahrheit“ wird sozusagen eine „persönliche“ emotionale Wahrheit. Diese Umwandlung von Beta- in Alpha-Elemente geschieht am Anfang des Lebens insbesondere mithilfe der Mutter – solange, bis wir selbst eine sichere „Alpha-Funktion“ entwickelt haben. Vielleicht haben Menschen mit einer großen Angst vor der Unendlichkeit zu wenig von dieser mütterlichen Alpha-Funktion erlebt und können in der Folge auch bei sich selbst Beta-Elemente schlechter in Alpha-Elemente umwandeln.

Literaturhinweis:

James Grotstein: Bion’s Transformation in „O“ and the Concept of the Transcendent Position:
„Beginning with Winnicott’s (1954) concept of ‚chaos‘ and Bion’s (1965) concept of ‚O‘, as well as Matte-Blanco’s (1975, 1988) concept of infinite sets, we begin to see a post-modern revision of the picture of the fundamental nature of the Unconscious. The ‚deep and formless infinite‘ is its nature. It is dimensionless, infinite, and chaotic, or, in Matte-Blanco’s terms, symmetrical and infinitized.“ (Frei übersetzt von Voos:) „Wenn wir an Winnicotts (1954) Chaos-Konzept, an Bions (1965) Konzept von ‚O‘ und an Matte-Blancos (1975, 1988) Konzept der unendlichen Sets/Mengen denken, merken wir, wie wir damit beginnen, die grundlegende Natur des Unbewussten neu zu verstehen. Das ‚tiefe und formlose Unendliche‘ ist seine Natur (Anm. Voos: … die wir wahrnehmen können). Das Unbewusste ist das Dimensionslose, das Unendliche und Chaotische, oder, mit Matte-Blancos Worten, das Symmetrische und ‚ver-Unendlichte‘.“

Schon Fjodor Dostojewski (1821-1881) beschreibt in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ (Anaconda-Verlag 2010: S. 87) eine Frau, die sich an einen Mönch wendet und sagt:
„… alles, worunter ich leide, schon lange, lange leide! Ich leide, verzeihen Sie mir, ich leide … das zukünftige Leben, das ist mir ein Rätsel. Und niemand kann es mir lösen, dieses Rätsel! … dass mich vielmehr der Gedanke an ein Leben nach dem Tod aufregt bis zu tatsächlichem Leiden, ja bis zu Schrecken und Angst … Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. … Ich stehe da und sehe, dass allen oder fast allen ringsum mich her die ganze Sache gleichgültig ist und dass niemand sich darum Sorge macht – nur ich kann das nicht ertragen. Das richtet mich zugrunde…“ Der Mönch rät ihr dann zur „tätigen Liebe“: „Bemühen Sie sich, Ihren Nächsten tätig und unermüdlich zu lieben!“

„Die Zusammengehörigkeit von Unglück und Glück – nicht in einem dritten Anderen, sondern im Glück, das sich gerade dadurch zu sich selbst bringt, daß es das Unglück sich zugehören läßt – diese Art der Zusammengehörigkeit der Entzweiten in Einem macht die wahre Unendlichkeit des Endlichen
aus.“ Heidegger-Vorlesung über Hegels Phänomenologie des Geistes.

In einer Psychoanalyse kann die Angst vor der Unendlichkeit bzw. vor dem „ewigen Leben“ möglicherweise emotional verstanden und bedeutend gelindert werden.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Literaturtipps:

Pietro Bria and Riccardo Lombardi:
The logic of turmoil:
Some epistemological and clinical considerations on emotional experience and the infinite
Int J Psychoanal (2008) 89:709–726
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18816337

Hoevels, Fritz Erik:
Die Unsterblichkeitsvorstellung im Lichte der Psychoanalyse
System ubw (unbewusst) 1/1992
Zeitschrift für klassische Psychoanalyse
https://www.medimops.de/hoevels-fritz-erik-die-unsterblichkeitsvorstellung-im-lichte-der-psychoanalyse-system-ubw-1-1992-taschenbuch-M03922774997.html

Alessandra Ginzburg and Riccardo Lombardi:
Emotion as Infinite Experience: Matte Bianco and Contemporary Psychoanalysis
Franco Angeli, Milan, 2007; 311 pp.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/10.1111/j.1745-8315.2008.00106_8.x

Carlo Rovelli:
Die Ordnung der Zeit
Rowohlt, 2021
The Order of Time
Penguin 2019

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 2.1.2014
Aktualisiert am 12.3.2024

10 thoughts on “Angst vor dem ewigen Leben, Angst vor der Unendlichkeit (Apeirophobie)

  1. Andreas sagt:

    Zur Andeutung, Nahtoderfahrungen könnten durch Medikamente verursacht werden: Aus zahlreichen Nahtod-Berichten geht hervor, dass NTE oft schon längst VOR der medizinischen Behandlung ihren Lauf nehmen, was auch logisch ist in Anbetracht dessen, dass die typische NTE meistens sofort mit dem Herzstillstand beginnt und eine medizinische Notfallversorgung bei weitem nicht immer zur Stelle ist. Herzstillstände passieren ja wohl nicht nur am OP-Tisch, sondern an allen möglichen Orten.

    Aus der Medizin ist auch bekannt, dass die körperlichen Sinne nicht erst mit dem Herzstillstand ausfallen, sondern bereits dann, wenn der systolische Blutdruck auf unter 70 mmHg sinkt. Der Körper wird dann bewusstlos und wenn man in dieser Phase keine außerkörperliche Erfahrung hatte, dann kann man sich auch an nichts erinnern.

    Insgesamt könnte man aus diesen Phänomenen lernen, dass es im Erleben ohne Körper gar keine Zeit gibt, das wird von den Erfahrenen immer wieder betont: Kaum waren sie außerhalb ihres Körpers, blieb die Zeit stehen, daher ist es irreführend, wenn man sich die „Ewigkeit“ so verstellt wie wir es als körperliche Menschen typischerweise tun, nämlich mit einem zeitlichen Empfinden bzw. als einen Zustand, in dem es einen zeitlichen Verlauf gäbe, bei dem man Dinge zu „erledigen“ hätte.

    Es gibt zwar auch einen kleinen Anteil an schrecklichen Höllenerfahrungen. Diese sind gerade auch wegen der Zeitlosigkeit so schrecklich, denn hier bedeutet die Zeitlosigkeit auch absolute Hoffnungslosigkeit. Aber NTE zeigen, dass sich solche Zustände in positive verändern können. Und wenn diese Ewigkeit so schrecklich wäre, wie manche Menschen sich das vorstellen, dann würden wohl die meisten Menschen nach NTE nicht sagen, dass sie am liebsten „drüben“ geblieben wären. Sie betonen immer wieder, dass sie auf keinen Fall zurück wollten in den Körper. Es scheint eher so zu sein, dass man im „jenseitigen“ Zustand ohne Körper Angst hat, ein irdisches Leben, eingepfercht in einen Körper, durchleben zu müssen. Wirkliche Gründe, die „Ewigkeit“ als existenziellen Terror zu sein, gibt es eigentlich nicht, wenn man sich umfassend mit diesen Phänomenen befasst.

  2. Kinseher Richard sagt:

    Nahtod-Erfahrungen(NTEs) haben gar nichts mit Sterben/Tod zu tun – auch wenn dieser falsche Zusammenhang immer wieder suggeriert wird – völlig gleichartige Erlebnisse gibt es auch in NICHT-lebensbedrohenden Situationen.
    NTEs können beginnen wenn das Gehirn eine unverständliche Situation verarbeiten muss. Normalerweise reaktiviert das Gehirn sofort eine zum aktuellen Reiz passende Erfahrung aus dem Gedächtnis (Fachbegriff: predictive coding).
    Wenn es aber keine passende Erfahrung findet, dann konzentriert es sich so intensiv auf die Verarbeitung der unverständlichen Situation – dass man die Arbeitsweise des Gehirns bewusst erleben kann.
    Wenn es die unverständliche Situation der Reihe nach mit im Gedächtnis gespeicherten Erlebnissen vergleicht – werden diese Erlebnisse der bewussten Wahrnehmung zugänglich: dann erlebt man einen Lebenslauf im Schnelldurchlauf. Manchmal erstellt das Gehirn eine gedankliche Simulation der aktuellen Situation- wo man den EIndruck hat, den eigenen Körper von außerhalb beobachten zu können (außerkörperliche Erfahrung). Wenn sich das Gehirn der Verarbeitung eines anderen Reizes zuwendet ist die NTE vorbei. (Literatur: ´Kinseher Richard: Pfusch, Betrug, Nahtod-Erfahrung´).
    (Weil alle unsere Erlebnisse in der zeitlichen Gegenwartsform erlebt, im Gedächtnis gespeichert und beim Erinnern wieder Reaktiviert werden, bedeutet dies, dass diese Erlebnisse lebenecht wieder-erlebt werden. Deshalb hat man z.B. bei Erinnerungen an Verstorbene den Eindruck, lebensecht mit diesen zusammen getroffen zu sein.)
    (Im Gedächtnis gespeicherte Erlebnisse können beim Erinnern deutlich verändert werden – Fachbegriff: state dependent retrieval. Wenn z.B. die Erinnerungen zur Entwicklung des Sehsinns beim Fötus ganz schnell erinnert werden – entsteht die optische Illusion, sich in einem dukeln Tunnela auf ein rasch größer werdendes Lich hin zu bewegen = das Tunnelerlebnis. Und Eltern die sich um ein Baby kümmern werden beim Erinnern dieser Erlebnisse zu einem liebevollen Lichtwesen, von dem man sich grenzenlos geliebt, angenommen und verstanden empfindet. Diese Begegung mit dem ´Lichtwesen´ gehört zu den schönsten Erlebnissen, die man bei NTEs haben kann!)

  3. Sven sagt:

    Ich finde gerade die Endlichkeit so furchterregend. Nicht die eigene, darum weiß ich. Das wirkliche Übel ist doch die endliche Zumutung dazwischen, wo man den qualvollen Tod mindestens der eigenen Eltern miterleben muss. Gleich wie sehr auf Natürlichkeit und Richtig-/Wichtigkeit der Endlichkeit hinargumentiert wird – aus meiner Sicht ist es sinnlose Hirnwichserei. Jeder hat Angst und niemand will JETZT sterben. Es wird nur gut über ein Ereignis gesprochen, das einen selbst oder gar die eigenen Nächsten momentan nicht betrifft. Die Angst, ewig weiterleben zu müssen, kann aus meiner Sicht als generelle Lebensverweigerung aufgefasst werden. Der Normalfall ist die unvernünftige Bejahung. Wer jetzt nicht sterben will, angeblich 100 Jahre später, der will es in Wirklichkeit nie – und umgekehrt.

    Genauso wenig gibt es ein tröstliches ‚Nichts danach‘, weil man ja sich nicht nichtempfinden kann. Unserer Zeit fehlt ein Schopenhauer, der keine 700 Seiten Nichts über Nichts schreibt, sondern ohne Umschweife auf den üblen Grund des Seins geht. Was ist, kann nicht erlöst werden unter den kosmischen Gesetzen, solange es Etwas ist. Die Last ist bloß eine Andere, für Menschen wie für Steine.

  4. Jay sagt:

    Dieses „ozeanische Gefühl“, mit allem verbunden zu sein, beschreibt
    Freud als frühesten Bewusstseinszustand des Neugeborenen, also quasi als Ausgangspunkt der
    frühkindlichen Entwicklung, zu Beginn der oralen Phase.
    Man könnte vermuten, dass bereits hier, durch wenig empathisch veranlagte Eltern, die
    Störung bereits beginnt.

    Ich beschäftige mich viel mit Zen-Buddhismus.
    Dieser hat nichts mit dem Esoterik-Buddhismus zu tun, der unter anderem im Westen
    vom Dalai Lama verkörpert wird, sondern er ist eher eine Philosophie, eine spezielle Art
    die Realität zu betrachten.
    Zen kappt die Verstrickungen mit der Vergangenheit und die Befürchtungen über die
    Zukunft und betrachtet den gegenwärtigen Augenblick als Momentaufnahme, befreit von
    Konzepten und jeglichen Gedankengebäuden.
    Dies kann wirklich sehr befreiend sein.

    Auf die Frage „Was passiert in der Unendlichkeit?“
    würde ein Zen-Meister seinem Schüler höchstens antworten:
    „Frag mich nochmal, wenn wir dort angekommen sind.“

  5. nadine sagt:

    Ich leide an einer angststörung und eigentlich gehts mir auch wieder ganz gut. Seit ein paar Tagen aber beschäftige ich mit diesem Thema. Ich glaube eigentlich nicht richtig an gott. aber bisher hat mir ein etwaiges Leben nach dem Tod eher Geborgenheit vermittelt. Aber für immer, selbst wenn es glücklich und selig ist, das macht mir Angst.

  6. Peter Reitz sagt:

    Hallo Frau Voos,

    es ist schön, Ihre Zeilen zu dem Thema zu lesen. Das hier auch eine „Diagnose“ gestellt
    werden kann, finde ich fast schon komisch… ;-)

    Herzliche Grüße,

    Peter Reitz

  7. Dunja Voos sagt:

    Mein Herz würde bei dieser Vorstellung komplett zugehen ;-) Daher gibt es wohl auch so viele verschiedene Religionen, weil sich jeder Mensch etwas anderes wünscht und ein jeder etwas anderes braucht.

  8. Anette sagt:

    Meine Assoziationen über das ewige Leben sind nur positiv besetzt und gehen über das Geschriebene hinaus: Liebe, Geborgenheit bei Gott, Gerechtigkeit, Schutz, glücklich sein, Freude, …
    Also das Beste, dass ich mir vorstellen kann ewiglich. Da geht mein Herz auf. :-)

  9. Dunja Voos sagt:

    Aber „ewig“? Immer, immer weiter, ohne Ende? Das wäre für mich eine furchtbare Vorstellung. Selbst, wenn’s ruhig ist ;-)
    Ich finde immer ganz schön, dass der englische Begriff für „Ewigkeit“ „Eternity“ lautet. Dieser wiederum hängt mit „Ether“ zusammen, also mit etwas, das einen einfach umgibt, das einfach da ist, wie so ein Bettchen …

  10. Anette sagt:

    Ewiges Leben kann auch etwas sehr Befreiendes sein, eine Hoffnung, dass alles gut wird und dass es einmal Ruhe und Geborgenheit geben wird.

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