Woran denken Sie bei dem Begriff „Erziehung“? An nutzlose Eltern-Kind-Rangeleien, an das Hinzerren in eine von den Eltern gewünschte Richtung, an Ohrfeigen, ans Geradesitzen und artige Bedanken? Oder assoziieren Sie eher Positives wie Da-Sein, Sich-Kümmern, eine Richtung geben und Dabei-Bleiben? Jeder stellt sich unter „Erziehung“ etwas anderes vor. Viele mögen den Begriff „Beziehung“ lieber. Doch wenn schon der Begriff „Erziehung“ so schwer zu verstehen ist – was ist dann eine „falsche Erziehung“? „Der Junge ist falsch erzogen“, sagt die Bäckerin. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Die Umstände erziehen mit
Wenn ich beruflich im Stress bin und meinem Kind nur mit halben Ohr zuhöre, wird es irgendwann unruhig, quengelig und „unartig“. Wenn ich erkältet bin, wenn ich sauer bin auf eine Freundin, dann kommt mein Kind unter Umständen zu kurz. Dieses Zu-kurz-Kommen äußert es durch Unbehagen. Hört man genau hin, wird man feststellen, dass es anfangs seine Wünsche und Bedürfnisse noch angemessen äußert. Das „Unerzogene“ kommt erst, wenn ein Kind mehrfach nicht gehört oder angeschaut wurde.
Eigene Familienprobleme machen das „Sich-Beziehen-aufs-Kind“ schwer
Manche Eltern können ihre Kinder kaum hören. Weil sie zu wenig Geld haben, weil sie zu viele Sorgen haben, weil sie selbst als Kind vernachlässigt und gequält wurden. Vielleicht hat diesen Eltern nie jemand ausreichend geholfen. Wie sollen Eltern, die vorwiegend negative Repräsentanzen aus ihrer eigenen Kindheit in ihrer inneren Welt haben, anders auf ihre Kinder zugehen als durch Lautwerden, übertriebene Strenge oder Gleichgültigkeit?
Belastete Eltern haben es oft sehr schwer, eine befriedigende Beziehung zu ihrem Kind herzustellen. Wohl alle Eltern wollen, dass es ihrem Kind in vieler Hinsicht besser geht, als es ihnen selbst ergangen ist. Daher handeln sie aus den Phantasien und Vorstellungen heraus, die sie selbst über sich und ihre Kinder haben.
Strafen
Ich finde es zum Beispiel bedenklich, Kinder zu strafen. Ich als erwachsene Person werde ja auch nicht bestraft – es sei denn, ich fahre bei Rot über die Ampel. Normalerweise fahre ich nicht bei Rot über die Ampel. Nicht, weil ich kein Bußgeld zahlen will, sondern weil ich mich selbst schützen will. Also auch, wenn es keine Strafe gäbe, würde ich bei Rot halten. Wenn ich mich gestritten oder wenn ich etwas vergessen habe, straft mich mein schlechtes Gewissen oder der Schmerz, den ich erlebe, weil ich versagt oder etwas verpasst habe.
Genau diesen Schmerz erleben Kinder doch auch, wenn sie etwas „falsch“ gemacht haben. Ihre Blicke zeigen meistens, dass es ihnen leid tut, die Grenzen der Eltern übertreten zu haben. Kinder wollen wiedergutmachen – das sieht man, wenn man genau hinschaut.
Wie denkt man sich Strafen aus?
Oft frage ich mich, wie Eltern sich ihre Strafen ausdenken. Und was sie sich denken, wenn sie eine Strafe über mehrere Tage hin ausüben. Diese Eltern haben einfach andere Vorstellungen von ihren Kindern als ich selbst. Doch was ist gut und schlecht, richtig oder falsch?
„Erziehung“ gleich „Verwirrung“
Manchmal stoße ich auf das Wort „Erziehung“ in komischen Zusammenhängen. Zum Beispiel heißt es: ADHS sei eine ernstzunehmende Erkrankung und kein Erziehungsproblem (www.info-adhs.de/adhs-verstehen). Was soll man mit so einem Satz anfangen? Die betroffenen Kinder leiden häufig unter einem Be-ziehungsproblem. Die Eltern streiten sich möglicherweise, vielleicht gibt es Geldsorgen, vielleicht ist der Vater von zu Hause ausgezogen, vielleicht hat die Mutter Depressionen – es gibt 1000 Gründe für Kinder, „unartig“, anstrengend, rebellisch, gewalttätig, unruhig oder „ADHS-ig“ zu sein. Mit „Er-ziehung“ im Sinne von „gezielten Erziehungsstrategien und -methoden“ hat ADHS wohl wirklich nichts zu tun. Wohl aber mit „Be-ziehung“, die immer von unbewussten Phantasien mitgestaltet wird.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 13. April 2013
Aktualisiert am 13.11.2015
Benno Blues meint
Ich bin jetzt 53 und habe vier erwachsene Kinder. Auch ich habe versucht, meine Kinder zu erziehen. Ich wusste es eben nicht besser. Ich wurde erzogen, also habe ich auch erzogen. Heute sträubt sich mir bei diesem Begriff das Nackenhaar. Was mit Erziehung gemeint ist, ist doch allgemein hin ein Beschneiden und und Verbiegen jeder Einzigartigkeit und Besonderheit und das so lange, bis wir möglichst ein „normales“ Kind haben. Aber es ist nicht mehr das Original. Später dann, so etwa in meinem Alter, sind die groß gewordenen Kinder auf der Suche nach sich selbst, oft unter Zuhilfenahme von Psychotherapeuten. Es kostet dann viele Anstrengungen, zahlreiche Tränen und so manchen Schmerz, um wieder zu sich selbst vorzudringen, vermutlich genauso viel wie einst nötig war, das unerzogene Kind zu egalisieren. Ich distanziere mich heute nichts von einer Erziehung im herkömmlichen Sinne. Wenn ich es noch einmal tun dürfte, würde ich es mit Pestalozzi halten: „Erziehung ist Beispiel und Liebe – sonst nichts.“ Kinder kommen perfekt ausgestattet auf die Welt, den Rest machen oftmals überforderte Eltern daraus…
Klaus-Peter Baumgardt meint
Sie haben den Artikel heute noch einmal über Twitter verbreitet; insofern gebe ich noch einen Kommentar ab:
„Falsche Erziehung“ vs. „Richtige Erziehung“ ist eine schwierige Polarität, wenn wir voraussetzen, dass jeder erzieht, so gut er kann, „den Umständen entsprechend“.
Weshalb ja auch Winnicott den Ausdruck „good enough mother“ geprägt hat, um allzu verunsicherte Mütter zu beruhigen.
Wo es „gut genug“ gibt, gibt es auch ein „besser“. Da müssen wir Erwachsene uns bewusst sein, dass wir Vorbild sind und ggf. die Richtung bestimmen, was in den Beiträgen ja auch zum Ausdruck kommt.
Was „das lustige “tsit-tsit”-Geraeusch“ betrifft: Hier hat auch die Erwachsene das Recht, sich zu wehren. Da geht es um eine primäre Polarität, gut und böse, darf die Mutter auch selbst mal böse werden, wenn sie verletzt wird.
Alice Schwarzer hatte ja viel zu falscher Erziehung oder „schwarzer Pädagogik“ geschrieben, wenn sie auch, wie wir heute wissen, selbst, gegenüber dem eigenen Sohn, nicht gerade empathisch war.
Abschließend: Es geht auch um die „Enkulturation“, gesellschaftliche Einflüsse, Medien, Umwelt. Das Kinderzimmer von heute schaut ganz anders aus als vor 100 Jahren, und die Kinder werden mehr oder weniger reichlich beschenkt.
„Das Kind verdient Liebe“ – Das ist eine uralte Erkenntnis eines Sachverhalts (bei OVID im Narziss-Mythos notiert), der sich wie ein zweischneidige Schwert verhält.
Katrin meint
Es gibt keine richtige oder falsche Erziehung. Ob etwas richtig oder Falsch ist, liegt im Auge des jeweiligen Betrachters. Was für eine Mutter A absolut NO-Go wäre(zb. unter Druck setzen), ist für Mutter B ein gutes Hilfsmittel. Jeder sieht das, was er sehen will bzw. nicht sehen will.
Ich wurde autoritär erzogen und geschlagen und oft angebrüllt und seelisch bestraft(mein Vater hat mir zb. als Teenie mein Tagebuch und meine Bravoposter zerrissen…) und genau deswegen weiß ich wie sich ein Kind fühlt wenn es gedemütigt wird!! Da ich es selbst an eigenem Leib erfahren habe, weiß ich wie weh das tut. Körperlich wie auch seelisch. Dass das Folgen mit sich bringt, die später ins Erwachsenen Leben reichen zeigte sich darin dass ich mehrfach depressiv wurde und schlussendlich eine Therapie machen musste. Aber ich habe mein Kind noch nie geschlagen oder bin ihm körperlich angegangen, nur weil ich selbst geschlagen wurde. Sicher ist es nicht einfach über dieses Thema zu schreiben, denn einerseits sollte man nicht alle diese „misshandelten “ Eltern über einen Kamm scheren und man sollte es aber auch nicht verharmlosen da es auf jeden Fall Einzelfälle gibt, die wirklich so handeln wie sie selbst behandelt wurden oder aus absoluter Überforderung dann etwas tun was nicht gut ist(zb. das kind schütteln weil es nicht einschlafen will oder man glaubt dass es nur so einschlafen kann)
Zum Wort „Strafe“ kann ich nur sagen, dass es weit gefächert ist und auch hier wieder Interpretationssache. Strafe kann auch sein, indem man einfach konsequent ist. Für mich ist es zB. auch „Strafe“ wenn ich sage „Du kannst nicht ständig immer nur die Wurst von der Stulle essen und dann noch Nachtisch verlangen. Du bekommst nur dann Nachtisch, wenn du deine Stulle richtig isst.“ Dann knabbert das Kind ein wenig am Butterbrot und sagt es ist satt, aber will trotzdem den Nachtisch noch haben. Wenn ich meinem Kind dann aber den Nachtisch verweigere und darauf hinweise „du hast gesagt, du bist satt, also wirst du auch kein Nachtisch mehr essen“), dann ist es in den Augen meines Kindes eine Strafe. Dabei bin ich nur konsequent. Möchte dass mein Kind vom Abendbrot auch WIRKLICH satt wird, und die Stulle so isst, wie man sie eben isst und nicht nur die eine scheibe wurst. Und es soll lernen wenn man sagt, dass man satt ist, dass man auch wirklich satt ist und KEINEN Hunger mehr hat. Nachtisch geht , wie wir wissen ja immer rein. Aber hier muss man ein Vorbild sein! Ich esse auch nur Nachtisch wenn ich noch hunger habe. Bin ich satt, esse ich auch nichts mehr. Ansonsten, wenn ich hier nicht „strafe“, dann wird mein Kind 1. nie lernen sich richtig satt zu essen, 2. wenn es gefragt wird ob es satt ist, dass es dann auch die Wahrheit sagt(nicht dass ich den Nachtisch reiche und davon nur 2 Löffel gegessen werden…)
Strafe bedeutet nicht immer dass es gesetzwidrig ist, wie das Bußgeld bezahlen bei überfahren einer Roten Ampel.
Zum Thema ADHS findet sich ein interessanter Beitrag im Buch „Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung“. Darin schreibt Frau Saalfrank dass sie glaube, dass es keine Krankheit in dem Sinne ist, sondern die Norm in der die Kinder heutzutage gesteckt werden, verschärft wurden. Sie hat dazu einige Seiten geschrieben. Nicht die Kinder sind „unnormal“ sondern das Problem liegt daran dass die Gesellschaft immer mehr und immer früher etwas von den Kindern verlangt und die Leute die ADHS diagnostizieren, die Erwartung an ein „normales“ Kind herauf setzen und eher versuchen die bösen Symptome(das schlechte Verhalten) zu eliminieren, statt sich um das Kernproblem zu kümmern. Wie du schon sagst, Kinder reagieren auf das was die Eltern tun bzw. eben nicht tun und sobald ein Kind „verhaltensauffällig“ wird, wird viel zu schnell von ADHS gesprochen und ggf auch sofort mir Medikamenten unterdrückt – die nachgewiesen schädlich für die kindliche Entwicklung sind! Ein Kind dass im Schulunterricht zb. stört muss nicht „auffällig“ sein. Es gibt einige Fälle, die ich gelesen habe, wo ADHS diagnostiziert wurde und später sich aber raus stellte, das Kind ist hochbegabt. Als man das Kind dann speziell förderte und mehr auf das Kind einging, war der „Zappelphilipp“ ganz plötzlich verschwunden… Oder wie du schon sagst, Wenn die Eltern sich zb. ständig streiten, sich vielleicht sogar körperlich angehen, kann das Kind darauf mit „Auffälligkeiten“ reagieren.
Marcus Krahlisch meint
So unterschiedlich kann man einen Artikel lesen. Ich lese aus ihrem Artikel meine eigenen Erfahrungen als Kind heraus. Ich wusste als Kind ziemlich genau, wann ich etwas falsch gemacht hatte. Das Leben und andere Menschen waren häufig eine schwere Strafe als jede die sich meine Eltern ausdenken konnten. Es war aus meiner Sicht ganz entscheidend, dass meine Eltern bei Problemen immer ansprechbar waren. Aus diesem Grund gehe ich mit Beziehung statt Erziehung voll mit. Wenn ein Kind mit seinen Problemen, Ängsten und Nöten nicht mehr zu seinen Eltern gehen kann, weil es immer gleich Strafe erwartet, dann werden die Probleme meist größer und schwerwiegender. Häufig sieht man dann die ganzen unerwünschten Verhaltensweisen. In dieser Hinsicht deckt sich ihr Beitrag mit meinen Erfahrungen. Es macht immer wieder Spaß ihre Beiträge zu lesen – machen sie weiter so! LG Marcus
Melanie meint
Entschuldigung, aber das klingt jetzt ja alles schoen und einfach. Wenn ich zwei Kinder wie meine Tochter haette, wuerd ich da sicher zustimmen. Sie ist ein ruhiges Kind, sehr nachdenklich, einfach durch Vorlesen, Spiele und Gespraeche zu unterhalten, ohne dabei ein Kind ohne „Ecken und Kanten“ zu sein. Ihr Zwillingsbuder dagegen ist einfach permanent aufgeregt, findet alles 1 Minute superspannend und danach vollkommen langweilig. Von morgens 6:30h bis abends 22:00h steht er permanent unter Strom, braucht bereits seit einem Jahr (sie sind jetzt gerade drei geworden) keinen Mittagsschlaf mehr. Er ist grundsaetzlich ein liebes, sehr froehliches Kind, allerdings extrem impulsiv. Er verletzt sich staendig. Es ist ja schoen, dass er seine Wuensche hat, aeussert und auslebt, nur ist er ja nun einmal nicht der einzige Mensch auf der Welt, der Wuensche hat. So kann ich z.B. nicht sagen, dass sein Wunsch, das lustige „tsit-tsit“-Geraeusch zu hoeren, wenn er den Reissverschluss meiner Jacke blitzschnell auf- und zumacht, mit meinem Wunsch, mein Kinn nicht eingeklemmt zu bekommen, irgendwie harmoniert. Passiert aber nahezu taeglich. Da hilft dann auch das anschliessende: „Sorry, Mama, hab ich vergessen.“ nicht so wirklich. Da ist Strafe natuerlich nicht angebracht – das Kind hat ja schliesslich Wuensche (die es schliesslich auch vorher geaeussert hat: „tsit-tsit, Mama!“, und die ich einfach nur gemein mit einem „Nein!“ uebergangen habe). So nur als Beispiel.
Und natuerlich nicht zu vergessen: die Kindheitstraumata (gaehn!!!): Mein Mann und ich hatten beide eine glueckliche Kindheit und fuehren tatsaechlich eine Klischee-Musterehe. Geldprobleme haben wir keine. Mein Mann arbeitet in unserem Haus, ich bin freiwillige Hausfrau. Die Kinder haben also jederzeit den Ansprechpartner ihrer Wahl. Sie duerfen sich schmutzig machen, auf unsere kleinen Baeume klettern, laut sein und mit unseren Hunden, Katzen und Kaninchen spielen. Wenn sie Lust darauf haben, gehen sie zu ihrer Tante oder zu Nachbarkindern. Wir gehen viel spazieren, damit unser Sohn sich austoben kann.
Ich finde es schon ganz schoen unverschaemt zu unterstellen, dass ADHS einfach nur das Resultat ignoranter Eltern mit miserabler Kindheit ist. Das kann nur jemand behaupten, der offensichtlich nicht betroffen ist.