Sie sind nicht zu fassen und doch immer da: Körperliche Beschwerden und die große Angst darum. Über die Hypochondrie, also die Angst vor Krankheiten, gibt es viele Witze. Die Betroffenen selbst finden das weniger lustig. Der Begriff „Hypochondrie“ ist aus dem Griechischen abgeleitet und bedeutet „obere Bauchhöhle“ (hypochondrion). Die ständige Selbstbeobachtung und Sorge um den Körper wird auch als „hypochondrische Angststörung“ bezeichnet.
Krankheit ist wichtiger als Gesundheit
Häufig sind Männer betroffen. Viele Betroffene kommen aus Familien, in denen das Thema „Krankheit“ großgeschrieben wurde. Nicht selten gab es in der Tat schwere Krankheiten oder Todesfälle in der Familie, die dem Betroffenen große Angst gemacht haben. Eine Hypochondrie kann beispielsweise entstehen, wenn eine nahe Bezugsperson gestorben ist, man selbst aber nicht trauern durfte oder nicht ausreichend Trost fand. So wird die „verbotene Trauer“ mit der Zeit in körperliche Symptome „umgewandelt“.
Schwierigkeiten in der Beziehung
Aber auch Konflikte in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz können zu hypochondrischer Besorgnis um den eigenen Körper führen. Das kann so stark sein, dass der ursprüngliche Konflikt gar nicht mehr wahrgenommen wird. Im Vordergrund steht nur noch die Atemnot, der Kopfschmerz, der Schwindel oder das Kribbeln in den Beinen. Die Betroffenen brauchen jemanden, der ihnen zuhört und ihre Klagen ernstnimmt. In Partnerschaften ist das allerdings oft schwierig, denn mit der Zeit bekommt der Partner eines Hypochonders nicht selten das Gefühl, dass seine Belange völlig unwichtig sind. So ist die Beziehung im Ungleichgewicht: Einer klagt, der andere fühlt sich festgezurrt und dennoch weit weg. Daher kann die Hypochondrie auch unbewusst dazu genutzt werden, Aggressionen loszuwerden. Dies allein zu erkennen, ist für die Betroffenen oft nur schwer machbar. Sehr oft ist das nur mit therapeutischer Hilfe möglich, denn die Betroffenen haben ja ihre Ängste um den Körper entwickelt, weil sie sich ohne Hilfe nicht an die eigentlichen Ängste heranwagen.
Die Hypochondrie und ihre Begleiter
Die Hypochondrie als einziges, abgegrenztes Krankheitsbild kommt eher selten vor. Oft sind andere psychische Probleme dabei, z. B. eine Angststörung oder eine Depression. Wenn die Patienten hauptsächlich Angst vor körperlichen Erkrankungen haben, sprechen Experten von einer „krankheitsphobischen Angststörung“; wenn sich die Angst darauf bezieht, körperlich missgestaltet zu sein, dann handelt es sich um eine „körperdysmorphe Störung“ („morphe“ = griechisch: Gestalt), auch Dysmorphophobie genannt.
Vom Zwicken zum Tumor
Bei einer krankheitsphobischen Angststörung wird jedes Zwacken gleich zum Tumor, jeder banale Infekt gleich zu einer Lungenentzündung, Blutvergiftung oder Nierenerkrankung erklärt. Die Betroffenen wissen zwar, dass ihre Sorge übertrieben ist, dennoch fühlen sich sich durch ihre ängstliche Gedanken unentwegt gequält. Hier kann es auch Übergänge zur Zwangsstörung geben, etwa wenn die Betroffenen stets auf besondere Hygiene achten oder sie große Teile des Tages über Krankheit und Tod grübeln.
Vom Herzschmerz zum Herzinfarkt
Ein häufiges Beispiel für eine körperbezogene Angst ist die Herzangstneurose. Immer wieder gehen die Betroffenen zum Arzt oder ins Krankenhaus, doch die Untersuchungsergebnisse bringen nur kurzfristig Erleichterung. Manchmal sind die Patienten auch auf eine gewisse Art enttäuscht, dass „wieder nichts ist“. Sie leiden und gehen doch „leer“ aus. Sie finden keine Hilfe, keinen Angriffspunkt. Und können ihren Gefühlen scheinbar nicht trauen. Treffen sie jedoch auf einen Arzt, der sie ernst nimmt und wirklich sieht, dass der Patient „doch etwas hat“ oder ihm „doch etwas fehlt“, so kann dies der Beginn einer Psychotherapie sein. So erfährt der Patient dann endlich Hilfe, weil man sich um seinen wahren „Herzschmerz“ kümmert.
Angst vor psychischen Erkrankungen
In den Medien wird zunehmend auch über psychische Erkrankungen berichtet, was dann wiederum zu der Angst führen kann, eine schwere psychische Erkrankung zu haben. Der gesunde Appetit wird zur Essstörung, der gespitzte Bleistift zur Zwangsstörung. Die Art der Ängste hat neben dem symbolischen Charakter auch immer etwas damit zu tun, was der Betroffene weiß, gelesen oder gehört hat.
Angst vor der Behandlung, dem Arzt, dem Krankenhaus an sich
Viele Menschen fürchten sich vor einem Tumor. Bei Frauen ist die Angst vor einem Brustkrebs oft besonders hoch. Fragt man näher nach, so ist es nicht unbedingt nur die Angst vor der Krankheit, die quält, sondern besonders auch die Angst vor der modernen Medizin. Für viele Patienten ist die Vorstellung, in ein Krankenhaus gehen zu müssen, ausgeliefert zu sein, eine Chemotherapie zu erhalten der absolute Horror. Hier steht die Angst des Ausgeliefertseins im Vordergrund. Oft sind Menschen davon betroffen, die Angst haben, ihre Wünsche könnten nicht respektiert werden. Wer zum Beispiel Krebs hat, der „muss“ sich nicht einer Chemotherapie unterziehen, wenn er das nicht will. Es gibt auch Kliniken, die ganzheitliche Ansätze anbieten und nur das tun, was der Patient sich auch wünscht – solch eine Klinik ist z.B. die Praxisklinik Bonn (Dres. Schuppert).
Menschen, die vor einer Psychose Angst haben, fürchten sich oft davor, in eine Zwangsjacke gesteckt und zur Medikamenteneinnahme gezwungen zu werden. Auch hier gibt es viele neue Konzepte, z.B. das Konzept „Soteria“ – hier werden Psychosen auch ohne Medikamente behandelt. Informationen gibt es z.B. hier: www.soteria-netzwerk.de und www.ciompi.com.
Wenn die Nase zu lang wird
Unter der Dysmorphophobie leiden zeitweilig Jugendliche. Das kann ganz natürlich sein, denn der Jugendliche muss sich mit dem „neuen Körper“ erst einmal klarkommen. Manchmal steckt dahinter die Angst vor der sexuellen Entwicklung. Da ist es unbewusst doch harmloser, sich mit der „langen Nase“ zu beschäftigen. Schwieriger wird es, wenn die Besorgnis nicht mehr vergeht und den Alltag bestimmt. Dann sollten Betroffene Hilfe suchen. Adressen gibt es für Jugendliche z.B. bei der www.vakjp.de (Vereinigung analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten) und für Erwachsene bei der www.dgpt.de (Deutsche Gesellschaft für Psychoananlyse, Psychosomatik, Psychotherapie und Tiefenpsychologie e.V.).
Nicht das Top-Model und doch geliebt
Schwere Angst um das Äußere beim Erwachsenen kann beispielsweise bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung vorkommen. Manche Patienten möchten sich auch einer Schönheitsoperation unterziehen, dabei liegt das wahre Problem im gestörten Selbstbild. So bringen die Operationen oft nur kurzzeitig Erleichterung. Erst, wenn das Selbstwertgefühl in einer Psychotherapie wieder an Kraft gewonnen hat, lässt die Sorge um das Äußere dauerhaft nach. Erst hier begreifen die Patienten auch gefühlsmäßig, dass Angenommensein oder Abgelehntwerden nur zu einem geringen Teil eine Frage des Äußeren ist.
Es gibt Hilfe
Wie auch immer die Ängste und Sorgen um den Körper aussehen mögen, sie haben meist einen triftigen Grund. Wenn dieser hervorkommen darf, dann geht es den meisten Patienten besser. Eine psychoanalytische Therapie kann vielen Betroffenen gut helfen, denn die unbewussten Gründe für die Hypochondrie werden dadurch bewusst und somit steuerbar. Therapeutenadressen gibt es beispielsweise bei der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatik, Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychotherapie, DGPT.
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Literatur:
Michael Ermann
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Ein Lehrbuch auf psychoanalystischer Grundlage
Kohlhammer, Stuttgart 2004
Diagnosenummer nach ICD 10:
F45.2 = Hypochondrische Störung
Dieser Beitrag erschien erstmals am 23.10.2012
Aktualisiert am 13.05.2014
anonym meint
Ich finde es sehr gut, dass hier auch auf die Angst vor psychischen Erkrankungen eingegangen wird!