In vielen Beiträgen zum Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ist zu lesen: „ADHS ist unheilbar.“ Wenn man ADHS als eine Erkrankung betrachtet, die allein genetisch festgelegt ist, dann wäre diese Aussage logisch. Wenn man ADHS als unveränderliche Stoffwechselstörung betrachtet, ebenso. Doch so einfach ist das nicht. Die einfache Aussage „ADHS ist nicht heilbar“ ist genauso unbedacht wie die Aussage „Krebs ist nicht heilbar“ oder „Schizophrenie ist nicht heilbar“. Diabetes Typ I ist nicht heilbar, ja, weil Bauchspeicheldrüsenzellen zerstört sind und das Hormon Insulin nicht mehr produziert werden kann. Auch, wenn ADHS oder Depressionen noch so oft von Fachleuten mit Diabetes verglichen werden, so hinkt dieser Vergleich sehr. Die Bezeichnung „ADHS“ weist lediglich auf Symptome hin – nämlich auf Konzentrationsstörungen, Impulsivität und motorische Unruhe. Doch die Ursachen dahinter sind sehr verschieden.
Wissenschaftler sagen, dass es sich bei ADHS um eine „funktionelle Störung“ handelt. Das heißt, der Gehirnstoffwechsel ist nach dieser Sichtweise aus dem Gleichgewicht geraten. Es handelt sich aber in den allermeisten Fällen nicht um eine organische Störung, bei der zum Beispiel das Gehirn irreparabel beschädigt wäre.
Strukturniveau bei ADHS berücksichtigen
Immer ist auch zu berücksichtigen, dass es verschiedene psychologische Formen von ADHS gibt. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Kind/Jugendlicher mit „niedrigem Strukturniveau“ die Diagnose „ADHS“ erhält oder eines mit „hohem Strukturniveau“ (genau genommen kann man das „Strukturniveau“ erst auf die ausgereifte Persönlichkeit beziehen, aber Ansätze sind schon im Kindesalter zu erkennen – man vergleiche Kinder aus sozialen Brennpunkten mit denen aus gehobenen Schichten). Die Theorie, dass einfach eine Stoffwechselstörung – wie z. B. ein Dopaminmangel – besteht, ist als Erklärung nicht ausreichend.
Wenn ich ständig Stress habe, verändert sich natürlich mein Hirnstoffwechsel. Das heißt aber nicht, dass diese gestörte Stoffwechsellage nicht wieder rückgängig zu machen wäre.
Dopaminmangel ist nicht erwiesen
Oft wird behauptet, ein Mangel an Dopamin sei schuld an der Erkrankung. Doch allein diese sogenannte „Dopaminmangelhypothese“ wird von zahlreichen Wissenschaftlern angezweifelt. Psychoanalytische (Kinder)therapeuten jedenfalls betrachten die Erkrankung nicht als Schicksal, bei dem es nur darum geht, Symptome zu lindern. Ihre Erfahrung zeigt, dass Heilung durchaus möglich ist.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- ADHS – das umstrittene Syndrom
- Psychoanalytische Therapie bei ADHS
- Frankfurter Präventionsstudie zu ADHS
Lesetipp:
Frank Dammasch:
ADHS – Krankheit oder Beziehungsstörung?
Elvira – immer vorwärts, nie zurück
Zur subjektiven Bedeutung der Diagnose
Psychoanalyse aktuell 10.1.2007
Psyche (Juli 2008):
ADHS – Psychoanalytische und andere Perspektiven
S. 634-643: Einblicke in Ergebnisse klinisch-psychoanalytischer Forschung zu ADHS: Fall „Max“.
S. 643-648: Fall „Nora“: 31 Jahre nach der Behandlung wendet sich Nora an die Therapeutin.
Sie hatte ihre „schweren Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen dauerhaft überwunden: der Arbeitsbereich hatte für sie – auch in Zeiten depressiver Verstimmungen – kompensatorische Funktion übernehmen können.“
S. 654-671: Heide Staufenberg: Bewegung und Bedeutung.
Aus einer psychoanalytisch-psychotherapeutischen Behandlung eines sogenannten „ADHS-Kindes“. Fall „Alex“.
Marianne Leuzinger-Bohleber:
Frühe Kindheit als Schicksal?
Verlag Kohlhammer 2009 (Link zu Amazon.de)
S. 58-59: „Die meisten psychoanalytischen Autoren sehen in einer basalen Schwäche der inneren Regulationen von Triebimpulsen, Wünschen und Affekten eine der möglichen Ursachen für die Entwicklung einer ADHS-Symptomatik sowie von Störungen im Bereich der Fein- und Grobmotorik.“
S. 170-177: Frankfurter Präventionsstudie zur Verhinderung psychosozialer Integrationsstörungen (Insbesondere von ADHS im Kindergartenalter), Fall „Max“
Dieser Beitrag erschien erstmals am 2.9.2009
Aktualisiert am 5.9.2014