
Als ich das Buch „Die geprügelte Generation“ der Kölner Autorin Ingrid Müller-Münch bestellte, wollte ich damit das Bild ergänzen, das ich aus den Büchern von Sabine Bode zu den Kriegsenkeln, Kriegskindern und Nachkriegskindern sowie von Tina Soliman und Angelika Kindt zum Thema „Eltern-Kind-Kontaktabbruch“ gewonnen hatte. Ingrid Müller-Münch ist es gelungen, eine unglaublich „echte“ Atmosphäre aufzubauen. Schon allein das immer wiederkehrende Foto des kaputten Teppichklopfers erinnert regelmäßig an die Gewalttaten, die so viele Kinder zu Hause erlebt haben – und oft immer noch erleben. (Text: © Dunja Voos, Bild: © Klett-Cotta)
Die Vergangenheit wird wach
Ingrid Müller-Münch interviewt Menschen, die in den 50er und 60er Jahren ihre Kindheit erlebten und lässt sie von der Gewalt erzählen, die sie regelmäßig zu Hause erfuhren. Dabei kann man fast die alten Teppiche riechen, die zu jener Zeit herumlagen. Man spürt förmlich die Kälte der Keller, in die viele Kinder geführt wurden – um eingeschlossen oder verprügelt zu werden.
Sicher weckt das die Erinnerung vieler Leser an eigene Gewalterfahrungen. Die Erzählungen sind teilweise zum Gruseln, während die Erzähler selbst manchmal ganz und gar „abgeklärt“ oder „sachlich“ wirken. Die Folgen dieser Gewalt werden sehr deutlich: Beziehungslosigkeit und Einsamkeit sowie der Verzicht auf eigene Kinder sind vielleicht die vordergründigsten:
S. 129: „All das, was ihm als Kind widerfuhr, versursachte bei ihm Bindungsangst … ‚Dieses Gefühl hat mich dazu gebracht, lieber wegzugehen, als die Liebe wirklich zu erkennen und anzunehmen … Nein, ich habe keine Kinder … Letztlich hat mir der Mut zu Kindern gefehlt. Aus dieser Geschichte heraus. Weil ich einfach zu viel wusste vom Schiefgehen. Ich denke schon, es hat mit den Schlägen und eben auch mit diesen seelischen Strafen zu tun.'“
Persönliche Geschichten und Hintergrundinformationen
Ingrid Müller-Münch lockert die persönlichen Gesichten auf, indem sie Sachinformationen einbaut: Sie schreibt, wie Erziehung im Laufe der Jahrhunderte aussah und zeigt in Kapitel 17 die Entwicklung der Gesetze von 1758 bis zum Gesetzesbeschluss aus dem Jahr 2000, nach dem Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben:
„In § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches heißt es von nun an: ‚Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.'“ (S. 271)
Aber was ist heute?
Mit der 1968er-Bewegung verbreitete sich die gewaltfreie Erziehung. Und doch stelle ich in Gesprächen mit viel „jüngeren Kindern“ immer wieder fest, dass familiäre Gewalt immer noch unglaublich verbreitet ist. Ein 1980 geborenes Kind erzählte mir kürzlich von denselben gewaltsamen „Erziehungsmethoden“, die auch noch in den 70er Jahren üblich waren.
Das Buch hätte noch stärker betonen können, dass trotz der vielleicht allgemein verbesserten Lage auch heute noch unglaublich viele Kinder leiden: Gerade in vielen sozial schwachen Familien ist Gewalt immer noch an der Tagesordnung. In Kapitel 16 mit dem Titel „Wird heute noch geschlagen?“ schreibt Ingrid Müller-Münch:
„Wer sein Kind noch immer schlägt, hat nichts verstanden von dem, was längst überall propagiert wird: Gewalt bringt nichts. Fürsorge und Empathie in der Erziehung sind angesagt. Und wer sich hieran nicht hält, dem droht der Staatsanwalt“ (S. 259).
Es klingt so, als würde man einem Raucher sagen: „Hör auf zu rauchen, du weißt doch, dass das ungesund ist“, ohne zu sehen, aus welcher inneren Not und Spannung heraus dieser Raucher vielleicht raucht. An „Empathie“ kann man sich nicht „halten“, „Empathie“ ist etwas, dass Kinder erst lernen müssen. Erwachsene, die sie nicht haben, können sie sich nicht einfach aneignen, solange nicht ein anderer mit ihnen selbst empathisch war.
Obwohl das Buch voller Atmosphäre und reich an Wissen ist, fühlte ich mich beim Lesen teilweise seltsam unberührt. Ich hatte das Gefühl, dass etwas Entscheidendes fehlt: Ein tieferes Verständnis für die gewalttätigen Eltern.
„Verständnis“ zu haben scheint natürlich fast unmöglich, gerade aus der Sicht der Kinder, die die Gewalt erfahren haben. Ingrid Müller-Münchs Motivation für dieses Buch war ja unter anderem auch ihre eigene Betroffenheit.
Wer Gewalt erfahren hat, kann nicht unbedingt „Verständnis“ haben. Doch es gibt Autoren, die das Phänomen „Gewalt“ verständlicher machen: zum Beispiel der britische Psychoanalytiker Peter Fonagy. Auch schreibt der Kinderanalytiker Hans von Lüpke in seinem „Psychologie-heute“-Artikel von 2010 einiges über misshandelnde Eltern, das dem Leser einen neuen Blick auf die Eltern vermittelt (Hans von Lüpke: „Kindesmisshandlung ist ungeheuerlich, aber nicht unbegreiflich.“).
Fazit: Ein gelungenes Buch, das viel Wissen vermittelt und bei vielen Lesern wahrscheinlich das erleichternde und überraschende Gefühl auslöst, nicht allein gewesen zu sein: Es gibt sehr viel mehr Leidensgenossen und Gemeinsamkeiten in den Geschichten, als der Einzelne bisher vielleicht glaubte. Die Hintergrundinformationen sind sehr gut recherchiert – das Buch hätte allerdings noch ein bisschen mehr „Psychologie“ vertragen.
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Buch:
Ingrid Müller-Münch:
Die geprügelte Generation
Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen
Klett-Cotta, 2. Auflage 2012
19,95 Euro
Martin meint
Ich glaube nicht, dass heutzutage oder auch seit 1980 nur Kinder von sozial schwachen Familien geschlagen werden. Ich kannte bzw. kenne viele Fäle, in denen das genaue Gegenteil der Fall ist.
E.Weissbach meint
Ich bin 1956 geboren und so ein geschlagenes Kind.Mein Vater war sehr jaehzornig.Ich bekam fuer Kleinigkeiten und Verfehlungen meines kleinen Bruders seine Hand im Gesicht zu spueren.Manchmal durfte ich nicht zur Schule gehen,weil mein Gesicht so geschwollen war.Bisher habe ich es verdraengt,
Dunja Voos meint
Das freut mich – es ist wirklich schwierig, das zu beschreiben, denn das Leid der Opfer ist mitunter unfassbar groß.
anonym, weil auch betroffen meint
Vielen Dank, Frau Dr. Voos, für Ihre nähere Erläuterung. Ja, nun habe ich verstanden, was mit dem tieferen Verständnis gemeint ist.
Dunja Voos meint
Ich stimme Ihnen da eindeutig zu: Die Betroffenen brauchen Menschen, die ihre Not anerkennen, sie brauchen Wiedergutmachung und Mitgefühl. Die Opfer von Gewalt durchlaufen viele Phasen, in denen sie begreifen, wütend sind, Groll haben, trauern. Manche Opfer können sich später mit den Tätern – zumindest innerlich – versöhnen, andere können es nicht. Natürlich ist beides zu respektieren.
„Verständnis aufbringen“ ist wahrscheinlich auch kein glücklicher Ausdruck. Ich halte es aber für wichtig, dass aufklärende Bücher auch ein „Verstehen“ mitbringen, ohne das Verständnis zu „fordern“. Also in dem Sinne noch einmal zu betonen, dass jeder Täter nicht einfach so zum Täter wird, sondern seine eigene Opfer-Geschichte hat. Natürlich kann man sagen: „Der gehört bestraft und fertig.“ Wenn man dabei jedoch stehenbleibt, dann kann man den Gewaltkreislauf nicht unterbrechen. Das gelingt nur durch wirkliches Verstehen. Damit meine ich nicht, dass von den Opfern selbst Verständnis zu „fordern“ ist, sondern ich fände es schön, wenn ein Autor, der ein Buch zu diesem Thema schreibt, auch verstehende Erklärungen oder eine verstehende Haltung mitbringt. Und das fehlt mir zum Beispiel an dem oben genannten Zitat von S. 259. Das ist auch oft das Problem der Helfer selbst: dass sie moralisierend auf die „Täter“ herabschauen. So ziehen sich die „Täter“, also zum Beispiel gewalttätige Eltern, von möglichen Hilfsangeboten zurück.
anonym, weil auch betroffen meint
Ein tieferes Verständnis für die gewalttätigen Eltern?
Das Buch richtet sich doch in allererster Linie an Betroffene. Ja, es ist richtig, dass sehr viele Betroffene – ganz im Sinne des Selbstbestimmungsrechts – eben kein Verständnis für ihre gewalttätigen Eltern aufbringen möchten. Insofern ist es auch gut so, dass Betroffene in diesem Buch nicht auch noch mit einem Kapitel, in dem ihnen suggeriert wird, Verständnis für ihre gewalttätigen Eltern zu haben, konfrontiert werden.
Dass viele heutige erwachsene Kinder sich strikt weigern, für ihre gewalttätigen Eltern Verständnis zu haben oder entsprechende von Psychoanalytikern verfasste Artikel zu lesen, ist von jedem zu respektieren – auch und gerade von im Bereich Psychologie Tätigen.
Viele Betroffene ziehen es vor, Bücher von Alice Miller zu lesen. Auch dies ist zu respektieren.
Die meisten Betroffenen möchten Anerkennung dessen, was ihnen seitens ihrer Eltern angetan wurde, Wiedergutmachung, Schadensersatz und Mitgefühl, aber eben keine Suggestionen, doch ein tieferes Verständnis für ihre gewalttätigen Eltern zu haben. Dass seitens im Bereich Psychologie Tätigen, der Gesellschaft und der Kirche von den Betroffenen permanent einseitig Verständnis für ihre gewalttätigen Eltern gefordert wird, sind aber nun mal sehr viele Betroffene ganz einfach nur leid. Es ist zu respektieren, wenn viele Betroffene sagen: „Nein, das möchte ich nicht.“