Medikamente bei Angst und Depression – ja oder nein?

„Die Ärztin hat mir sofort Opipramol verschrieben – soll ich das nehmen?“, fragt mich die Patientin. Ich rate ihr, nach ihrem Gefühl zu gehen. Wenn Du in einem ähnlichen Dilemma steckst, ist es wichtig, über die Medikamentenfrage nachzudenken und dem zu folgen, was Dir selbst behagt. Vielleicht fühlst Du Dich vom Arzt zur Einnahme des Medikaments gedrängt, vielleicht bist Du ihm aber auch dankbar für die Verordnung. Oft hilft das Neue – die neue Idee, das neue Medikament. Doch sobald es älter und vertrauter wird, geht die Begeisterung mitunter zurück.

Sobald Du ein Medikament nimmst, lenkst Du Deine Aufmerksamkeit darauf. Geht es Dir in den nächsten Tagen nicht gut, fragst Du Dich vielleicht, ob das Medikament das richtige ist und ob die Dosierung stimmt. Geht es Dir besser, denkst Du, das Medikament hat geholfen. Aber vielleicht gab es ganz andere Einflussfaktoren.

Medikamente können verwirren und zur Last werden

Antidepressiva und Neuroleptika haben gerade zu Beginn der Behandlung, aber auch beim Absetzen vielfältige Nebenwirkungen. Sie wirken auf das vegetative Nervensystem und auf die sexuellen Funktionen. Menschen, die Antidepressiva nehmen, stellen manchmal fest, dass sie nicht mehr weinen können, obwohl sie es gerne würden. Sie fühlen sich zwar vor äußeren Einflüssen etwas ferner, aber spüren auch, dass der Kontakt zu sich selbst und zu anderen nicht mehr so direkt ist. Sie können sich emotional nicht mehr so gut berühren lassen. Manche fühlen sich dadurch entlastet, andere wiederum stört es.

Bei vielen Medikamenten, z.B. bei Antidepressiva, diskutieren die Wissenschaftler noch über die genauen Wirkmechanismen und die möglichen Langzeitfolgen. Zwischen Psychiatern und Patienten können sich regelrechte Kämpfe entwickeln, wenn zum Beispiel der Psychiater Medikamente für richtig hält, der Patient aber diese Medikamente ablehnt.

Die Erfahrung der Ärzte

Ähnlich, wie unerfahrene Ärzte aus Angst vielleicht öfter Antibiotika verschreiben, so können psychotherapeutisch unerfahrene Ärzte aus Unsicherheit rasch auf Psychopharmaka zurückgreifen. Erfahrene Psychotherapeuten fühlen sich selbst als Mensch und Therapeut wirksam. Sie wissen, dass die therapeutische Beziehung helfen kann, Probleme zu verstehen und auch extreme innere Spannungszustände durch Psychotherapie zu lindern oder aufzulösen. Sie haben oft erfahren, dass eine langfristige therapeutischen Beziehung besser wirken kann als jedes Medikament. Das Problem ist allerdings, dass nur relativ wenige Menschen die psychotherapeutische Beziehung erhalten, die sie benötigen.

„Nein“ zu einem Medikament zu sagen, obwohl der Arzt oder Therapeut es für richtig erhält, erfordert manchmal Mut. Ebenso kann es Mut erfordern, es einmal mit einem Medikament zu probieren.

Andere Ärzte haben jahrelange Erfahrung mit der Verordnung von Medikamenten. Manche nehmen selbst Antidepressiva ein und spüren, dass sie ihnen gut tun. Viele haben gesehen, wie es Patienten unter der Gabe von Medikamenten rasch besser ging. Sie haben erlebt, wie Patienten durch die kurzfristige Gabe schlaffördernder Medikamente, regelrecht aufblühten. Viele Ärzte haben ein gutes Gespür dafür, welches Medikament zu welchem Patienten passt. Ärzte und Therapeuten, die hier unerfahren sind, sind vielleicht manchmal zu zurückhaltend mit der Verordnung von Medikamenten.

„Manchmal sind Medikamente notwendig, damit der Patient überhaupt fähig zur Therapie wird.“ Diese Aussage ist oft zu hören, jedoch sollte sie differenziert werden: Um welche psychische Erkrankung handelt es sich? Sprechen wir hier von drogenabhängigen Patienten, die aufgeregt sind? Wie hoch „strukturiert“ ist ein Patient? Wie sieht das Leiden genau aus? Wie gut ist der Psychotherapeut ausgebildet und wieviel Erfahrung hat er?

Ich finde, es ist oft umgekehrt: Patienten, die mit Medikamenten behandelt werden, finden erst dann einen befriedigenden Zugang zur Psychotherapie, wenn sie ihre Medikamente abgesetzt haben.

Wenig selbstwirksam

Medikamente können dazu führen, dass das Gefühl von Selbstwirksamkeit geschwächt oder irritiert wird. Während einer Psychotherapie wollen viele Patienten keine Medikamente nehmen, damit sie genau spüren, welche Wirkungen die Psychotherapie hervorruft. Ihre ungetrübte Gefühlswelt dient ihnen als wertvoller Kompass. Sie spüren deutlich, was ihnen gut tut und was ihren Zustand verschlechtert. Sie fühlen sich ohne Medikamente lebendiger, auch, wenn sie auf eine gewisse Art mehr leiden. Ihre Trauer, ihr Ärger, ihre Freude: das sind „sie selbst“.

Medikamente sind oft leider Lückenbüßer

Viele Patienten, denen es sehr schlecht geht, müssen oft lange auf einen Therapieplatz warten. Für Gespräche, Einfühlung und Trost bleibt oft keine Zeit. Manchmal werden dann Medikamente verschrieben, weil eben gerade „nichts Besseres“ da ist.

Wichtig ist immer die Frage: Was möchte der Betroffene selbst?

Allein die Vorstellung: „Ich brauche ein Medikament“ kann das Selbstvertrauen reduzieren. Aber wer sagt denn, dass man ein Medikament „braucht“? Viele gewinnen ihr Selbstvertrauen oft erst zurück, wenn ihnen jemand sagt: „Es geht auch ohne Medikamente.“ Die heilsame Beziehung zu einem Therapeuten ist oft wirksamer als jedes Medikament. Das zu erfahren, tut vielen sehr gut.

Anmerkung: In meiner psychotherapeutischen Praxis verordne ich keine Medikamente und empfehle Patienten, die ein Medikament nehmen möchten, zu einem Psychiater zu gehen. Ich persönlich glaube, auch bei Depressionen, Schlafstörungen und Angststörungen ist es sinnvoller, keine Medikamente zu nehmen, wenn eine gute Psychotherapie oder Psychoanalyse zur Verfügung steht.

Die medizinischen Leitlinien empfehlen jedoch die Kombination aus medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung, z.B. bei Depressionen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, sich ein eigenes Bild aus unterschiedlichen Quellen zu machen, sich Behandler zu suchen, denen man vertraut und dann eine Entscheidung zu treffen – wobei es der aufgebrachten Seele oft nur schwer möglich ist, zu entscheiden. Manchmal muss man sich auch zu einem Therapeuten „hinziehen“ lassen in der Hoffnung, dass man ihm vertrauen kann und dass es schon gut sein wird.

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Lesetipp:

The International Society For Psychological And Social Approaches To Psychosis, ISPS:
Courtenay M. Harding, Biography
Harding erforschte das Leben von Menschen mit schwersten Psychosen über eine Zeitspanne von 30 Jahren und mehr.
http://www.isps.org/index.php/isps-membership/isps-honorary-members/item/43-courtenay-m-harding

Videotipp:

Joanna Moncrieff: The Myth Of The Chemical Cure

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 3.10.2012
Aktualisiert am 21.8.2023

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7 thoughts on “Medikamente bei Angst und Depression – ja oder nein?

  1. Norah sagt:

    Nach 8 Jahren Psychotherapie und Medikamenten-Einnahme habe ich mich dazu entschlossen, keine Medikamente mehr einzunehmen. Das Absetzen habe ich selber in die Hand genommen und viel zu schnell durchgezogen. Ich hatte aber keine Anleitung.

    Angeblich gibt es ja keinen Entzug. Das kann ich so auf keinen Fall bestätigen. Auch zwei Monate später nicht. Meine Psychiaterin bestreitet dies. Ich fühle mich insgesamt freier, klarer, mehr Herr meiner Sinne, kann angemessener auf alles reagieren. Lasse mir nicht mehr alles gefallen, da ich nicht mehr sediert bin.

    Die Depression ist noch da, ja. Aber sie war mit Medikamenten natürlich auch nicht weg. Meine Erfahrung ist, dass eine gute Gesprächstherapie durch nichts zu ersetzen ist. Rückblickend haben die Medikamente mein Leben sehr verändert. Und zwar zum negativen. Ich habe es nicht erkannt. Ein Wunder das ich mich überhaupt getraut habe, sie abzusetzen. Aber ich hab’s getan. Anstoß dafür war ein Mega-Arzt in der Klinik, in der ich nach 7,5 Jahren des Leidens war. Es geht mir nicht bedeutend besser! Aber ein wenig schon und ich habe diese schrecklichen Nebenwirkungen nicht mehr. Mal abgesehen von den oben erwähnten Dingen!

  2. leighanne sagt:

    Ich denke, es kommt auch sehr darauf an, woran man genau leidet bzw. welche Tragweite das Problem hat, ob es nur punktuell ist oder universell bzw. chronisch.

    Meine Meinung nach sehr vielen Jahren Erfahrung:
    Ich bin inzwischen auch überzeugt, dass man eine wirklich voll ausgeprägte Depression niemals ohne Medikamente „behandeln“ kann. Vielleicht wäre „im Zaum halten“ auch der bessere Ausdruck. Echte Depressionen sind nun einmal nicht nur auf Lebensereignisse, sondern – und das zeigt die Forschung ja – auch auf gewisse genetische und biochemische Dispositionen zurückzuführen. Das heißt, dass man eventuell vielleicht gar nicht depressiv reagieren würde, gäbe es die Veranlagung nicht. Das leuchtet mir irgendwie schon ein. Echte Depressionen (ich spreche nicht von Verstimmungen) haben in den meisten Fällen auch die Tendenz zur Chronifizierung, so dass es in diesen oft genug doch überhaupt nicht mehr darum geht, irgendeine Heilung zu initiieren, sondern einfach nur darum, einigermaßen erträglich leben zu können. Und ich bin heilfroh, dass es Medikamente gibt, denn die Wirkung von Psychotherapie ist in vielen Fällen einfach nicht vorhanden bzw. zu minimal ausgeprägt. Das ist leider auch das, was mir viele Leidensgenossen über die Jahre erzählt haben. Deshalb plädiere ich dafür, gut zu unterscheiden, um welche Problematik es geht.

    Dass man in unserer Gesellschaft insgesamt aber zu viele Medikamente verschreibt (ich bin gerade in Bezug auf Ritalin oft schockiert), finde ich auch und ist ja ebenfalls durch Zahlen belegt. Die Frage ist oft doch: Wollen wir eine Pille, die uns jedes Problem wegzaubert? Oder geht es darum, einem Menschen, der erkrankt ist, zu helfen.

  3. Moni sagt:

    Als Betroffene habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sehr schwierig ist, wie in meinem Fall Antidepressiva, wieder abzusetzen. Trotz Ausschleichen litt ich unter Absetzsymptomen, die sogleich als Wiederauftreten der Erkrankung diagnostiziert wurden. Dank meiner zuversichtlichen Therapeutin und meinem stabilen sozialen Umfeld und natürlich meinem unermüdlichen, wiedererwachten Kampfgeist, habe ich im zweiten Anlauf mein Ziel ohne Psychopharmaka-Dauereinnahme zu leben, nun fast erreicht. Es ist schade und unverständlich, dass offenbar kaum ein Facharzt auf die Idee kommt, dass nicht eine weitere Aufdosierung oder Medikamentenumstellung, sondern im Gegenteil deren möglichst baldiges, sehr vorsichtiges Absetzen der letztlich heilsame Schritt ist. Nur so gelangt der Mensch doch erst wieder zum Glauben an seine eigene innere Kraft und Stärke!

  4. jens sagt:

    Medikamente können helfen, besonders wenn es ganz schlimm ist, aber sie könne auch zum Problem werden. Ziel muss es ja sein, das der Patient selbst Verantwortung über nimmt und lernt mit seiner Psyche wieder selbst zurecht kommt. Gibt der Patient diese Verantwortung ganz oder teilweise an Medikamente (oder den Therapeuten) ab, so wird er immer weiter darauf bauen, das Tabletten (und der Therapeut) ihm hilft. Das mag zwar in einer akuten Situation angezeigt sein, aber Ziel muss es ja sein, wieder so weit wie möglich in ein selbständiges Leben zurück zu kehren. Wichtiger als schnell Medikamente zu verschreiben wäre mit dem Patienten zusammen einen geeigneten Therapieplan aufzustellen und für Rückfragen zu Verfügung zu stehen, aber das ist nicht immer gegeben.

  5. Bernd Hecht sagt:

    Hatte ein paar Jahre als Laienhelfer in der Psychiatrie Haar bei München gearbeitet. Medikamente eröffneten meist überhaupt erst die Möglichkeit, daß ein Psychiater eine therapeutische Gesprächsbeziehung mit einem Patienten beginnen konnte,

  6. spielfee sagt:

    Vieles geht auch ohne Medikamente. Mag sein das es länger dauert um aus einem Tal wieder raus zu kommen, aber es ist möglich! Mit Medikamente fühlt sich das Leben „furchtbar“ fremdgesteuert an. Es bedarf nicht nur guter Therapeuten, sondern auch beste Freunde, die IMMER für einen da sind.

  7. Thomas sagt:

    Ein sehr schwieriges Thema, bei dem man von Fall zu Fall anders entscheiden kann. Ich bin allerdings dafür, dass Psychopharmaka wie Antidepressiva nur eingesetzt werden sollen, wenn die Patienten auch zu wissen bekommen, welche erheblichen Nebenwirkungen eintreten -können-. Ich glaube, dass genau an dieser Stelle oftmals die Beratung zu kurz kommt.

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