Über die Angst vor der Vorstellung, nach dem Tod ewig weiterleben zu müssen

Das Baby im Mutterleib bemerkt irgendwann, dass es lebt. Es hat eine Hand und diese Hand kann es bewegen. Das „gruselige Gefühl“, das entstehen kann, wenn wir uns unseres eigenen Lebens gewahr werden, kennt vielleicht jeder. Auch existenzielle Fragen plagen den ein oder anderen mehr oder weniger. Doch manche Menschen finden kaum noch Lebensfreude, weil sie mit der furchtbaren Angst beschäftigt sind, dass es nach diesem Leben auf ewig weitergehen könnte. In einem Online-Forum sagt Fearofinfinity (21) sagt: „Ich leide seitdem ich ca. 8 bin unter schrecklicher Angst vor der Ewigkeit! … (Der Glaube,) dass es nach dem Tod einfach ewig weiter geht und es niemals ein Ende geben wird, macht mich einfach verrückt! …“

„… Ich kann mir zwar vorstellen dass ich entscheiden darf, wenn ich genug vom Himmel habe, aber auch das hilft mir nicht. Denn einfach weg zu sein kann ich mir auch nicht vorstellen … Ich sehe einfach keinen Sinn mehr in diesem Leben! Und dabei möchte ich das Leben genießen! … Gehe nun schon zum Therapeuten und bekomme Cipralex, … aber habe das Gefühl, es wird alles noch schlimmer!“ www.gutefrage.net/frage/angst-vor-der-ewigkeit-

Das Gefühl von Ewigkeit und Verlorenheit kennen wir vielleicht aus der frühen Kindheit: Babys und Kleinkinder haben ein anderes Zeitgefühl als Erwachsene. Sie können sich nicht sagen, dass es morgen besser wird, dass die Mutter in wenigen Minuten wiederkommt oder dass ihre medizinische Behandlung gleich aufhören wird. Wenn Babys und Kleinkinder in Not sind, ist es für sie unendlich. Auch als Erwachsene kennen wir dieses Gefühl noch: Eine Frau, die in den Wehen liegt, verliert das Zeitgefühl. Wenn wir stürzen, kommt uns die Zeit des Falls sehr lang vor, weil wir viel wahrnehmen. Aber als Erwachsene können wir irgendwann wieder unseren Verstand einschalten.

Wenn kleine Kinder wenig einfühlsame oder gar gewalttätige Eltern hatten oder wenn sie früh intensiv medizinisch behandelt wurden (z.B. mit der – wie ich finde – grausamen Vojta-Therapie), dann erleben sie möglicherweise sehr ausgeprägt das Gefühl von Angst, Ewigkeit und Verlassenheit. Es installiert sich dieses Lebensgefühl. Wehrlosigkeit. Hoffnungslosigkeit. Auswegslosigkeit, Ausgeliefertsein. Alleingelassensein. Beziehungslosigkeit. Orientierungslosigkeit. Haltlosigkeit. Eingeengtsein. Ohnmacht, Nie mehr Ruhe finden. Keine Entwicklung erleben. Das sind die Grundgefühle, die sich bei einer schwierigen Kindheit etablieren können und den Menschen weiter begleiten.

Wenn die Mutter, die eigentlich Schutz bieten soll, selbst eine Gefahr ist, dann entsteht das frühe Lebensgefühl, dass es keine Lösung gibt und dass es kein Gefühl von „So ist es richtig für mich“ gibt.

In jungen Jahren kommt das volle Leben

Wenn die betroffenen Kinder älter werden, entfaltet sich irgendwann „das volle Leben“. Wer körperlich jung und gesund ist, der fühlt sich mitunter „unsterblich“ und „mitten im Leben“. Wenn er sich dann vom Elternhaus trennt, z.B. weil ein Studium beginnt, können sich nach einer traumatischen Kindheit Angstgefühle explosionsartig ausbreiten. Noch einige Jahre weiter und man wird mit der Frage konfrontiert: Will ich Leben weitergeben? Will ich Mutter/Vater werden? Und schon erinnert man sich unbewusst an die eigenen Gefühle von früher. Will man etwas, das sich so grausam anfühlt wie Leben, weitergeben?, so die bange Frage.

Abstand von sich selbst zu nehmen, hilft: Das, was wir hier empfinden, diese Angst, dieses Gruselgefühl, das Verlorenheitsgefühl, empfinden wir mithilfe unseres Nervensystems. Wird es ausgeschaltet, sind diese Gefühle weg.

„Du kannst Dich doch nicht erinnern“

Bei der Angst vor der Ewigkeit und vor dem Leben nach dem Tod helfen keine Beruhigungsversuche. Es weiß ja keiner, was nach dem Tod kommt. Manchmal hören die von schwerer Angst Betroffenen: „Selbst wenn Du weiterlebst: Du kannst Dich doch nicht an das frühere Leben erinnern!“ Dieser Satz ruft meistens erst recht „Horrorgefühle“ hervor. Es ist das Argument, das Anästhesisten (Narkoseärzte) oft benutzen: „Ich spritze dem Patienten gleich noch was nach, damit er sich nicht an die Schmerzen erinnern kann.“ Das Argument hinkt. Wenn ich jemanden gleich schlage und sage: „Ist nicht schlimm, Du kannst Dich später nicht erinnern“, dann spürt derjenige den Schmerz während des Schlagens aber dennoch. Das „Witzige“ an dem Satz „Du kannst Dich doch nicht erinnern“ ist, dass er so wahr und unwahr zugleich ist: Wir können uns nicht bewusst an unsere Baby- und Kleinkindzeit erinnern. Aber was möglicherweise sehr wohl geblieben ist, ist die namenlose Angst, das mulmige Gefühl von früher, das sich fest im Körper und in der Seele verankert hat.

Angst vor ewigem Leben kann auch heißen: Ich spüre meine Grenze nicht. Und ich werde ewig zu etwas gezwungen, was ich nicht will. Ich bin vollkommen ausgeliefert.

Besserung, wenn die Sterblichkeit spürbar wird

Manchmal lindert sich die Angst vor dem Leben bzw. dem Leben nach dem Tod, wenn man älter wird. Wenn die Lebenskraft zurückgeht, wenn Schmerzen auftauchen und weitere körperliche Beschwerden, kann das einerseits Ängste verstärken, weil das Gefühl der Hilflosigkeit wächst. Andererseits verschafft es vielen auch eine Art Erleichterung, weil sie spüren: „Ich bin sterblich.“ Manche sorgen in jüngeren Jahren unbewusst sogar dafür, dass sie ständig leiden, weil sie dann eine Art Grenze spüren und vielleicht eine größere Nähe zum Tod im Sinn von einem echten Ende.

Es kommt vieles zusammen

Bei Menschen, die so sehr am Leben und an der Frage nach dem Tod leiden, kommt vieles zusammen. Durch ihre Kindheit mangelte es ihnen möglicherweise an guten Beziehungen. Gute Beziehungen machen Sinn und geben das Gefühl von Sinnhaftigkeit. Das Wasser macht Sinn, wenn jemand da ist, der Durst hat und es trinkt. Das Leben „macht Sinn“ und wird erträglicher, wenn jemand da ist, der mich begleitet und mich versteht. Diese Erfahrung von sinnhafter Beziehung, von hilfreicher, beruhigender und verständnisvoller Beziehung haben viele Betroffene zu selten gemacht, sodass die Angst häufig auch mit einem Gefühl von Sinnlosigkeit verbunden ist.

Diese Erfahrungen helfen vielleicht – aber es braucht viel Zeit:
Ich spüre meine Sterblichkeit, z.B. durch Sport oder einfach durch das Älterwerden.
Ich fühle mich mit anderen verbunden.
Ich habe eine Beziehung zu jemandem, der mich wirklich versteht.
Ich kann mit Menschen sprechen und bewirken, dass meine Bedürfnisse erfüllt werden.
Ich mache die Erfahrung, dass andere Menschen mich ernst nehmen und adäquat auf mich reagieren.
Ich mache die Erfahrung, dass meine Wünsche in Erfüllung gehen.
Ich fühle mich selbstwirksam.
Ich weiß, was ich will und ich weiß, was ich nicht will.
Ich darf meine Kreativität ausleben.
Ich gebe auch meinen „bösen Seiten“ und Aggressionen Raum, nehme sie wahr und verarbeite sie.
Ich setze mich mit mir selbst und meinen Problemen auseinander.
Ich achte darauf, wann ich Vertrauen spüren kann und versuche, dieses Gefühl mitzunehmen und zu kultivieren.
Ich bin offen für meinen eigenen Schmerz.
Ich erforsche meinen Körper, z.B. durch Yoga.

Vielen Betroffenen hilft eine Psychoanalyse (Analytische Psychotherapie), weil diese zeitintensive Therapieform auf Beziehung ausgelegt ist und bewirken kann, dass ein neues Lebensgefühl entsteht.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 26. Januar 2018
Aktualisiert am 3. Januar 2024

2 thoughts on “Über die Angst vor der Vorstellung, nach dem Tod ewig weiterleben zu müssen

  1. Dunja Voos sagt:

    Liebe Alexandra, ganz herzlichen Dank für Ihren Kommentar! Darüber schreibe ich gerne einmal, sobald ich dazu komme. Vielen Dank für die Anregung.
    Dunja Voos

  2. Alexandra sagt:

    Mir geht es genau andersrum: ich habe schreckliche Angst vor dem Tod, dem „ewigen“ Nichts, das mich und alle, die ich liebe, auslöschen wird. Ich kann phasenweise nicht essen, nicht schlafen, an gar nichts anderes mehr denken. Es ist die Gewissheit, dass diese Auslöschung kommen wird und die Ungewissheit des Wie und Wann. Ich will mich vorbereiten darauf und zu einer friedlichen Akzeptanz kommen, erlebe aber nur, dass ich in meiner Angst versinke, dem Leben entgleite, je mehr ich mich mit dem Tod beschäftige. Es wäre schön, wenn Sie auch über dieses Phänomen einen Beitrag schreiben!
    LG Alexandra

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