Wie entsteht ein psychischer Raum?

Wenn wir in uns hinein spüren, dann spüren wir ihn: den psychischen Raum. Hier schweifen unsere Gedanken umher, hier liegen unsere Wünsche, Sorgen, Ängste und Vorstellungen. Hier liegt der Platz, in dem wir die Sorgen eines anderen aufnehmen können. Der psychische Raum ist der Raum, in dem wir all dies von links nach rechts schieben, es betrachten können, darüber nachdenken können, Gefühle verdauen und steuern können usw. Der psychische Raum will reifen und geschützt werden. Doch wie ist er entstanden?

Manchmal haben wir das Gefühl, unser psychischer Raum ist nur ganz klein: Wenn wir einem anderen Menschen gegenüberstehen und uns in einem Spannungszustand befinden, ist es vorbei mit dem Nachdenken und Gefühle-Regulieren. Wir sagen: „Ich weiß überhaupt nichts mehr“. Wir fühlen uns gelähmt und empfinden nichts mehr. Wenn wir ärgerlich werden, müssen wir gleich explodieren. Wir können den Ärger nicht halten und transformieren.

Ob wir viel oder wenig inneren Spielraum haben, hängt von vielen Faktoren ab, z.B. davon, ob wir satt und ausgeschlafen sind. Sind wir sehr moralisch, also haben wir ein sehr strenges Über-Ich, dann quetschen wir uns selbst ein, indem wir alles perfekt machen wollen und Druck auf uns selbst ausüben. Jeder Wunsch wird direkt durch ein „Ja, aber“ gebremst und wir stehen in unserer eigenen Sackgasse. Haben wir lange unsere Bedürfnisse unterdrückt, dann kann es sich anfühlen, als wollte innerlich ein riesiger Damm brechen. Zu anderer Zeit wiederum fühlen wir uns frei und halten alles für möglich.

Psychischer Raum entsteht durch Beziehung

Kinder kommen mit dem Wunsch nach Beziehung zur Welt. Sie treten sofort in Kontakt mit denen, die sie nach der Geburt aufnehmen. Sie zeigen dem Erwachsenen ihre Gefühle. Der gesunde Erwachsene kann das Baby anschauen und macht sich Gedanken darüber, was das Kind gerade fühlen mag. Er kann sich möglicherweise sogar einfühlen und beginnt sofort, für das Baby da zu sein. Er hat den Drang, den Säugling zu beruhigen und seine Bedürfnisse zu befriedigen. Diese früheste Kommunikation innerhalb und außerhalb des Mutterleibs schafft bereits schon einen psychischen Raum.

Container- und Alpha-Funktion der Mutter

Die junge Mutter schaut ihren Säugling an und zeigt ihm, dass sie aufnahmebereit ist. Sie hat nur Ohren und Augen für ihr Neugeborenes. Der Säugling und später das Kind kommt mit seinen unaushaltbaren Gefühlen zur Mutter/zum Vater/zu den Großeltern usw. Die Großen kommunizieren in bestimmter Weise mit den Babys: Sie „markieren“ ihre Gesichtsausdrücke. „Oh, hast du Hunger, Kleines?“, sagen sie mit übertriebener Mimik und hoher Stimme. Oder sie imitieren sein Gähnen und sagen: „So müde bist Du?“ Die Mimik und die Worte des Erwachsenen erreichen den Säugling. Sie beruhigen ihn, weil er sich verstanden fühlt. Obwohl der Säugling erst mal nur die Sprache des Schreiens und der Bewegungen hat, können die Erwachsenen in der Sprache der Worte antworten und seinem Befinden einen Sinn geben. Wenn Erwachsene über ihr Kind nachdenken, lernt das Kind langsam, über sich selbst nachzudenken.

Die „Mentalisierungsfunktion“ ist unverzichtbar, um eigene Gefühle regulieren zu können.

Ein empfindliches System

Schaut der Erwachsene das beunruhigte Kind an und befindet sich selbst gerade in Aufregung, dann kann das Kind das Gefühl bekommen, es hätte den anderen mit seinen Gefühlen angesteckt. Wenn der Erwachsene sich jedoch zu wenig in das Kind einfühlen kann, dann wird das Kind auf sich selbst zurückgeworfen. In Experimenten zeigt sich: Lächelt das Baby die Mutter an und lächelt die Mutter nicht zurück, macht das das Baby höchst unruhig.

Alpha-Funktion (= das Umwandeln unreifer seelischer Elemente in zusammenhängende, denkbare Elemente), Containment und Mentalisierung hängen eng zusammen. Sie schaffen den „psychischen Raum“. Als Erwachsene können wir auch durch Körpererfahrungen wie z.B. Atemübungen beim Yoga (Pranayama) die Erfahrung machen, wie Raum in uns entsteht und wie er sich weitet.

Während die Kommunikation mit Mutter, Vater und anderen Erwachsenen abertausende Male geschieht, kann das Kind sich immer besser selbst beruhigen. Es hat sich seinen eigenen inneren Container geschaffen, in den es Gefühle und Probleme legen kann. Es kann genau fühlen, wie sich alles anfühlt und einen Sinnzusammenhang darin suchen. Das Kind erhält ein inneres Bild von den Erwachsenen, die es einst beruhigt haben und behandelt sich zunehmend so, wie es selbst wiederholt behandelt wird. War zunächst die Mutter der „Haupt-Container“ für das Kind, so kommen mehr und mehr bedeutsame Menschen hinzu.

In der Bibel gibt es diesen schönen Satz, der die Idee eines psychischen Raums beschreibt:
„Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ (Lukas 2:19)

Containment kann missglücken

Das Kind erlebt, wie es seine Gefühle mit Mutter und Vater teilen kann. Ist es aufgebracht, so kann es Vater und Mutter ebenfalls „ganz jeck machen“. Diese frühe Form der Kommunikation nennt sich auch „projektive Identifizierung“. Das Kind teilt sich mit und die Großen reagieren darauf. Das Kind kommt weinend zu Mutter oder Vater gelaufen – es wird in den Arm genommen und getröstet. Das Kind erlebt, dass es hier um seine eigenen Gefühle geht.

Es kann jedoch sein, dass das Kind immer wieder einem „verstopften Container“ gegenüber steht. Haben Vater und Mutter selbst zu viele Sorgen und Beunruhigungen, ist der Container des Erwachsenen voll. Der Erwachsene hat nicht „den Nerv“, jetzt auch noch die Gefühle des Kindes aufzunehmen. Wenn wir krank sind, dann kommen wir in so einen Zustand: Wir können uns nicht um den anderen kümmern, haben keine emotionale Kraft für den anderen, sondern wir müssen erst einmal für uns selbst sorgen.

Ist der „Erwachsenen-Container“ verstopft, steht das Kind ganz alleine da. Es entsteht ein Gefühl von Kälte, großer Einsamkeit und Verzagtheit. Auch Hoffnungslosigkeit ist die Folge. Das eigene Gefühl kann nicht mehr verstanden, nicht mehr verdaut werden. Es macht das Kind unruhig, wenn die Tür zum Innenraum des anderen zu ist.

„Zu viel“ Einfühlungsvermögen

Wir kennen das vielleicht: Wenn wir im Aufzug stecken bleiben, macht uns das Angst. Wenn aber ein ängstliches Kind neben uns steht, das auch Angst hat, dann kann das hilfreich für uns sein. Denn wir können das Kind wahrscheinlich leichter beruhigen als uns selbst. Wir spüren unsere eigene Angst dann weniger. In gewissem Maße ist das gesund. Doch manch ein bedürftiger Erwachsener lebt täglich davon, dass das Kind Angst hat und diese Angst zeigt. Dann entsteht eine ungute Abhängigkeit. Das Kind bleibt in Angst an der Mutter/am Vater kleben. Der Erwachsene „verdaut“ nichts für das Kind, sondern braucht dessen ängstliche Gefühle, um sich selbst zu beruhigen. Doch wenn das Kind seine Gefühle nie in reifer Form zurück erhält, wenn es nicht gespiegelt, sondern sozusagen absorbiert wird, lernt es sich selbst kaum kennen.

Gleichgewicht ist wichtig

Wir alle haben Schwächen, Frustrationen und Unverarbeitetes in uns. Und doch können wir im Alltag meistens sagen: Damit kommen wir klar, das ist ein normales Maß. In dieser Position kann man einem Kind gut helfen, seinen psychischen Raum reifen zu lassen. Wann immer das Gleichgewicht zu sehr gestört ist, macht sich das meistens durch Leidensdruck bemerkbar: „Hier stimmt was nicht“, spüren wir. Dass etwas nicht stimmt, kann durch viele Faktoren verursacht sein: große Geldnot vielleicht, eine schwere Erkrankung oder die eigene Unfähigkeit, Gefühle in Worte zu fassen, weil man selbst nie genug Beziehungen hatte, in denen man reifen konnte.

Ein gesunder, weitläufiger und doch begrenzter psychischer Raum entsteht bei Kindern über die Beziehung zu gesunden, reifen Erwachsenen. Wie wichtig Beziehung ist, kann gar nicht oft genug betont werden. Es ist wichtig, dass die Erwachsenen ein gutes Gespür dafür haben, dass sie allein durch ihr wirkliches Da-Sein unglaublich viel bewirken können.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 9.10.2016
Aktualisiert am 21.4.2023

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