Der Rauswurf wird beendet – der Kampf mit der inneren Mutter

Darf man das machen? Darf man ein weinendes Kind mit großen hungrigen Augen rausschmeißen? Darf man es aus seinem Inneren rausschmeißen, wenn man meint, dass es die innere hungrige Mutter ist, die da weint? Vielleicht wurde man geboren, um der Mutter zu helfen. Vielleicht war man das Ein und Alles für eine Mutter, die sonst nichts hatte. Eine Mutter, in Not geboren und fast verhungert. Es gab nie Geld. Kein Zuhause. Nur Unruhe und Angst. (Text & Bild: © Dunja Voos)

Die Mutter bekommt ein Kind. Das Kind wächst und gedeiht. Es hat alles, was die Mutter nie hatte.

Die Mutter, die nie einen Platz für ihre Sorgen fand, ist immer gereizt. Sie sieht, wie gut es dem Kind geht. Da ist er wieder: der Schmerz, der alles zerreißt. Die Mutter geht auf das Kind los, sie prügelt es, sie schreit es an. Und nochmal. Und nochmal. Immer wieder. Das Schuldgefühlbäumchen, es wird gepflanzt. Früh fühlt sich das Kind schuldig für alle Freuden des Lebens, die es erlebt. Die Mutter wird bei jeder Freude zu einem Drachen, der zornig und neidisch das Kind malträtiert. Das Kind stellt die Mutter mit Misserfolgen ruhig. Mit jedem Misserfolgshäppchen stillt das Kind den neidischen Hunger der Mutter. Der Misserfolg des Kindes beruhigt die Mutter. Er kühlt ihren Neid. Wohltuend.

Das Bild der Mutter ist tief im Kind verwurzelt. Manche nennen es auch „malignes Introjekt“. Das Kind wohnt längst nicht mehr zu Hause. Die einst so mächtige und große Mutter wird manchmal kleiner. Doch wie ein hungriges Kind sitzt es neben dem satt gedeckten Tisch des Kindes.

Das Kind nimmt ein Stück Schokoladenkuchen. Und lässt die Gabel fallen. Darf es Schokoladenkuchen essen, wenn die Mutter niemals Schokoladenkuchen hatte, hat und haben wird? Das Kind, es fühlt sich schuldig. Die hungrige Mutter vermischt sich mit dem Schuldgefühl. Sie ist nur noch Phantasie, aber doch wie echt. Wie ein Tumor in der Psyche des Kindes scheint die Mutter dazusitzen und das Kind anzustarren. Darf man einen Tumor entfernen? Auch die bösen Zellen haben doch ein Recht auf Leben, oder? Man muss den Tumorzellen doch auch helfen, oder?

„Wenn ich den Tumor mit genügend negativen Ereignissen in meinem Leben füttere, dann hört er auf zu wachsen“, denkt das Kind.

Jedes Glücksmoment muss mit einem schmerzlichen Moment ausgeglichen werden, damit der Tumor ruhig bleibt. Das Kind glaubt fest, es könne der Mutter damit helfen, dass es unglücklich bleibt. Wenn es unglücklich ist, ist es unschuldig. Und wenn es unschuldig ist, schläft das Schuldgefühl. Und mit ihm der Drache.

Das Kind, es wächst. Es ist auf dem Weg, gebildet und wohlhabend zu werden. Doch immer, kurz bevor es sein Ziel erreicht, fällt eine Schranke herunter. Eine Axt, die sagt: „Das darfst du nicht!“ Alles entgleitet dem Kind. Es rutscht abwärts. Unschuldig. Es bekommt schreckliche Angst, es bekommt keine Luft, ihm wird schwindelig. Der Körper straft das Kind. Er kann nichts dafür. Das Kind straft sich selbst.

Das Kind überlegt, wie seine Sehnsucht heißt. Es findet den Namen für die Sehnsucht und sie heißt: „Unschuldig sein.“ Das Kind will unschuldig sein. Und – wie die Schriftstellerin Safi Nidiaye sagen würde – der Herzensschlüssel dazu heißt: „Es wird möglich sein.“ Ja, das Kind, es möchte sich endlich unschuldig fühlen.

Das Kind überlegt, ob es die innere Mutter rauswerfen darf. Bekommt es zur Strafe Krebs davon? Oder gleich Metastasen? Oder wächst die wütende Mutter außerhalb von ihm und kommt wie ein zerstörerischer Drache von außen zurück? Das Kind, es kämpft. Es überlegt. Es möchte seiner Sehnsucht Raum geben. Es möchte unschuldig sein. Das Kind, es wirft die Mutter raus. Es bekommt Angst. Was wird passieren? Kehren die Schuldgefühle zurück? Das Kind lässt die Mutter los. Das ist weniger brutal. Es schickt die Mutter zum Vater.

Am Ende lässt das Kind die Mutter innerlich einfach einschlafen. Es hat Mitgefühl mit ihr.

Das Kind trinkt mit der echten Mutter Kaffee. Die Mutter blickt wütend und verbittert. Nur sehr selten wirkt sie traurig. Sie klagt dem Kind wütend ihr Leid. Das Kind hört zu. Es hat Mitleid. Das geht nur, wenn man getrennt ist.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 2.9.2014
Aktualisiert am 12.7.2023

11 thoughts on “Der Rauswurf wird beendet – der Kampf mit der inneren Mutter

  1. Melande sagt:

    Liebe Frau Dr. Voos,
    diesen Beitrag lasse ich heute auf mich wirken
    und werde aufmerksam sein, was er mit mir macht.
    Ein Schwung HOFFNUNG ist schon da.

    Viele Grüße!

    Melande

  2. Melinas sagt:

    Zwei Drittel dieses Beitrags trafen mich mitten ins Herz. Ich bin so ein Kind gewesen (vielleicht immer noch) nicht gewollt, gehasst, weil der Vater gehasst wurde und ich vom gleichem Blute war – schon das war die erste Schuld. Ein von der Verwandschaft bestätigter Abtreibungsversuch, nicht losgeworden, benutzt, weitergereicht, misshandelt, missbraucht, erniedrigt, alleingelassen….Sie konnte meine Lebenskraft nicht ertragen, die hatte ich oder vielleicht sollte ich sagen Überlebenskraft – ich war nicht totzukriegen weder im Bauch noch später. Noch immer nicht`!
    Ich bin eigentlich nicht für Abtreibung, aber es ist besser eine Seele zu bitten wieder zu gehen, weil es gerade nicht passt – oder weil es sonst nur gequält, und auf andere Weise zerstört werden würde.
    Ich habe lange gebraucht bis ich akzeptieren konnte, dass es Sinn machen könnte, dass ich mir diese Eltern ausgesucht haben könnte – einzige Erklärung: Wir sind hier um zu lernen und ich habe wohl zu erfüllen stark zu werden – denn das bin ich geworden.

  3. Dunja Voos sagt:

    Guten Morgen, lieber Mensch!
    Herzlichen Dank.
    Dunja Voos

  4. Christianius sagt:

    Guten Abend Morgen, Mittag.

    Starker Text

    Ein Mensch

  5. Dunja Voos sagt:

    Sich gute Menschen suchen. Selbst gute Beziehungen haben, selbst nicht zu kurz kommen (auch wenn das für Mütter sehr, sehr schwer sein kann), dem Kind genügend weitere Beziehungen anbieten, nicht zu viel allein sein. Der „Dritte“ (z.B. Vater) kann negative Einflüsse abschwächen (… oder auch verstärken. Aber vom Prinzip her: Zu dritt ist das Kind geschützter als in einer angespannten Zweierbeziehung). Sich selbst ernstnehmen, eigene Gefühle wahrnehmen und ernst nehmen. Unterstützung suchen, wenn das zu schwer ist. Viel über Kinder wissen, um sie besser zu verstehen. Viele Tipps und Kurse gibt z.B. Bindungsforscher Karl Heinz Brisch oder das Projekt für Alleinerziehende von Professor Matthias Franz.

  6. Moneg sagt:

    Und wie kann ich als mutter dazu beitragen, dass ich eine gesunde Beziehung zu meinem kind habe?

  7. Dunja Voos sagt:

    Eine gute Frage! Wenn der Vater da ist, wird die Mutter etwas „ungefährlicher“. Der Vater nimmt die Schärfe aus der Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind. Für viele Patienten, die in die Psychoanalyse kommen, ist besonders die Mutter das große Problem, da die Nähe zu ihr – teils natürlicherweise, teils kulturell bedingt – größer ist. Natürlich gibt es auch sehr prägende Lebensgeschichten, in denen der Vater solche fatalen Auswirkungen hatte.

  8. Mone sagt:

    Und was ist mit dem Vater? Warum höre ich so viel von der bösen mutter?

  9. Yvonne Schröder sagt:

    Vielen Dank für diesen Text! Nach einer langen depressiven Episode bin ich gerade dabei, zurück ins Leben zu finden und meine Zukunft zu gestalten, nachdem ich meinen ersten Beruf an den Nagel gehängt habe (Helferberuf natürlich). Nun kämpfe ich genau mit diesen Gedanken und Schuldgefühlen. Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Mein Asthma ist gerade auch richtig schlimm.

  10. Dunja Voos sagt:

    Ich bin gespannt, was die Kinder später dazu sagen werden ;-) Früher gab’s ja nur Fotoalben zum Anfassen mit oft nur wenigen Bildern dran. Zur Not konnte man diese Alben wegwerfen. Das geht heute ja nicht mehr …

  11. Jay sagt:

    Wenn ich in die sozialen Netzwerke schaue, wird mir immer Angst und Bange, wenn ich sehe wieviel „Mutterliebe“ dort zur Schau gestellt wird.
    Da wird das Kind mithilfe von fleißig geteilten Bildern und Texten zum narzisstischem Selbstobjekt und zum Erretter der eigenen Seele stilisiert.
    Ihm wird öffentlich (!), in kitschigen Monologen „ewige Liebe“ geschworen, es wird zum „besten was man hat“ erklärt und imaginären Feinden werden mit markigen Sprüchen Konsequenzen angedroht, sollte man sich am Nachwuchs vergreifen.
    Willkommen auf der Showbühne des Social Web.
    Das eigene Kind wird rücksichtslos zum verlängerten, geheiligten, unantastbarem Selbst gemacht.
    Nicht alle Eltern sind so, aber viele nutzen ihre Kinder leider zur Selbstinszenierung.

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