Die möglichen psychischen Folgen bei Erwachsenen nach Vojta-Therapie als Baby

Ich erhalte viele Mails von Erwachsenen, die als Baby und Kleinkind die Vojtatherapie erhalten haben. Sie schreiben über ihr psychisches Leiden und oft endet die Mail mit dem Satz: „Bitte machen Sie das aber nicht öffentlich. Meine Mutter lebt noch und ich will nicht, dass sie sich schuldig fühlt.“ Was die Betroffenen äußern, ist oft ähnlich: Sie fühlen sich wie vergewaltigt, wie gefoltert. Sie können keinen Partner finden, sie empfinden sehr schnell Druck. „Anstrengung“ jeglicher Art empfinden sie als unaushaltbar. Situationen, in denen sie etwas tun müssen, was sie nicht wollen, kommen ihnen vor wie eine große Bedrohung. Die Betroffenen haben oft eine glasklare Sprache und eine Art „hypertrophes Ich“ – sie sind sehr „willensstark“ und leidensfähig. Gleichzeitig lassen sie sich nur ungern berühren und können Zärtlichkeit nur schwer ertragen.

Die Beziehung zu den Eltern ist schwierig, oft ist der Kontakt abgebrochen. Manche kommen regelmäßig in Phasen, in denen ihnen das Leben unaushaltbar erscheint.

Die Betroffenen schreiben auch, was ihren Müttern und Vätern gebetsmühlenartig gesagt wurde: Sie sollten das Schreien ignorieren. Das Kind empfinde keine Schmerzen, sondern nur Anstrengung und würde ohne die Vojta-Therapie im Rollstuhl landen oder einen Helm tragen müssen. Doch wenn Kinder ihre Bedürfnisse durch Schreien äußern und die Mutter mehrfach nicht darauf eingeht, führt dies sehr häufig zu sehr schwerem psychischen Leid. Nicht selten leiden die Betroffenen darunter, ihr Leben als extrem „anstrengend“ zu empfinden. Sie haben zwar Freunde und Kollegen, viele funktionieren beruflich gut, aber sie haben kaum Kraft, mit anderen etwas zu unternehmen. Es fällt ihnen sehr schwer, in einen berührenden emotionalen Austausch mit anderen zu kommen.

Vojta-Therapie und sexueller Missbrauch

Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass die Vojta-Therapie schwere seelische Folgen bei den Betroffenen hinterlassen kann. Die Folgen können ebenso schwer sein wie nach sexuellem Missbrauch oder Folter – die Betroffenen selbst fühlen sich häufig wie sexuell missbraucht oder gefoltert. Auch kann die Therapie durch die Assoziation mit dem Sexuellen sehr leicht in „echten“ sexuellen Missbrauch übergehen.

Sehr oft verdammt die Vojta-Therapie die Betroffenen zu extrem langem Alleinsein, aus dem sie sich nur mit großer Mühe befreien können. Auch, wenn Erwachsene manchmal sagen: „Es ist doch ein Baby – es wird sich nicht erinnern können“, so können sich Betroffene aus meiner Sicht in Form von „unsagbaren Zuständen“ später sehr wohl irgendwie erinnern.

Betroffene Frauen verbringen ihre fruchtbaren Jahre allein und wissen nicht, ob sich ihr Kinderwunsch erfüllen lässt. Oftmals müssen sie schmerzlich auf Berührung, Zärtlichkeit und Sexualität verzichten, weil sich in ihnen ein riesiger Widerstand gegen körperliche Nähe regt. Auffallend ist bei vielen auch eine extrem klare Sprache und Wortgewandtheit.

Die Vojta-Therapie fördere die Sprache, heißt es. Doch vielleicht ist das frühe Sprechenlernen auch als Hilferuf zu verstehen: Wer als Baby in der Hölle ist, will sich so bald wie möglich so gut wie möglich verständlich machen. Der klaren Sprache steht jedoch das Gefühl entgegen, nicht gehört zu werden. So klar und deutlich die Betroffenen auch sprechen, so sehr haben sie damit zu kämpfen, wirklich ernst genommen zu werden und sich in ihrer Kommunikation effektiv zu fühlen. Manche Betroffene sind 40 Jahre und älter und hatten noch niemals einen sexuellen Kontakt. Andere wiederum sagen: „Sexualität ist ganz klar etwas anderes und fühlt sich anders an.“ Ihnen ist es oft gelungen, eine eigene Familie zu gründen.

Erst langsam werden durch die Säuglingsforschung die möglichen Zusammenhänge zwischen schweren psychischen Störungen und der frühen Vojta-Therapie deutlich. Doch die gute Nachricht: Die Betroffenen haben selbst oft eine ungeheure Disziplin und einen starken Willen. Der lange Weg hinein ins Trauma erfordert oft einen ebenso langen Weg hinaus. Mit sehr vorsichtigem Yoga und einer langen, mitunter hochfrequenten Analytischen Psychotherapie kann es gelingen, zu einem reicherem und sicherem Körper- und Beziehungserleben zu finden. Jedes kleine Tröpfchen Fortschritt auf dem Weg zurück zum eigenen Körper, zum eigenen Wesen, ist wirksam.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 5.8.2016
Aktualisiert am 19.10.2023

15 thoughts on “Die möglichen psychischen Folgen bei Erwachsenen nach Vojta-Therapie als Baby

  1. Silvia sagt:

    Liebe Frau Voos,

    in der Paartherapie meines Mannes und mir geht es immer wieder um unseren Sohn (9 Jahre). Sein Stresslevel schnellt oft und sehr schnell nach oben, was zu Wutanfällen und Schreierein führt. Der Teufelkreislauf in unserer Familie geht damit weiter, dass mein Mann auf die Ausbrüche extrem genervt reagiert und unseren Sohn anschreit, unsere 12 jährigen Tochter ist daraufhin völlig genervt und pampt ihren Bruder an, was ihn zusätzlich in seiner Wut anstachelt. Mein Mann und ich geraten dann oft in Streit, weil ich von ihm mehr Geduld erwarte und nicht möchte, dass er unseren Sohn anschreit.
    Unsere Paartherapeutin hat uns gefragt, was unser Sohn erlebt haben könnte, dass der ansonsten sehr ausgeglichene und liebevolle Junge so schnell in solche Wutausbrüche geraten kann. Auf diese Frage sind mir plötzlich die Tränen gekommen und ich habe mich an die Vojta Therapie erinnert, die er als Kind verschrieben bekommen hatte. Die Diagnose war völlig banal, er hatte wie die meisten Kinder eine Lieblingsseite und die andere Seite sollte aktiviert/angesprochen werden.
    Obwohl ich mich innerlich völlig dagegen gesträubt habe, habe ich ungefähr 8 Sitzungen über ihn ergehen lassen. Die Therapeutin hat mich schon vorher gewarnt, dass das Kind während der Behandlung schreit und ich auf keinen Fall einschreiten dürfte. Nach der Behandlung war mein Sohn völlig fertig und ich hatte das Bedürfnis ihm ganz nah sein zu müssen und mit ihm zu kuscheln. Nach ungefähr 8 Sitzungen haben wir die Therapie abgebrochen, und auch unsere Kinderärztin haben wir gewechselt.
    Ich frage mich nun, 8 Jahre später, ob diese Erfahrungen, die unser Sohn dort sammeln musste, dazu führen könnte, dass er in „leicht angespannten“ Situatonen völlig überreagiert und sich nicht mehr kontrollieren kann.
    Ich weiß, dass ich meinen Fehler nicht mehr beseitigen kann, aber ich möchte alles dafür tun, ihm zu helfen mit seinen Wutanfällen umgehen zu können, ihn aus dieser Einbahnstrasse, in denen er am Ende als Buh-Mann darsteht, rauszuholen. Und ein Weg könnte doch sein, sich der Erfahrungen während dieser Therapie bewusst zu machen und zu verarbeiten?!
    Ich weiß momentan noch nicht, was ich darüber denken soll – vielleicht ist es auch nur ein Grund zu finden, warum unser Sohn so überreagiert und deshalb dieser Therapie die Schuld geben zu wollen?!
    Ich freue mich auf jeden Fall sehr über Ihre Seite mit Ihnen und anderen Betroffenen in Austausch zu kommen!
    Vielen Dank für Ihren Einsatz!
    Herzliche Grüße,
    Silvia

  2. Melande sagt:

    Liebe Kerstin,

    ich möchte gerne meine ….Lebensphilosophie ergänzen, die sich nach 68 Jahren Lebens- und Leiderfahrung in mir ausgebildet hat:

    Ich meine, dass jeder Mensch gute/starke/gesunde „Anteile“ in sich hat bzw. diese im Laufe seines Lebens „vermehrt“, durch Gutes, Führsorgliches, Hilfreiches, das er erhält, indem er sich geborgen/geliebt/verstanden fühlt. Also, wie bei Ihrer kleinen fröhlichen Tochter, die in einer intakten, liebevollen, harmonischen Familie aufgehoben ist (was man aus Ihrem Schreiben entnehmen kann).
    „Dunkle Anteile“ sind oder entstehen auch in einem, durch Erfahren von Schwerem/Schlimmen/Erkrankungen/Traumatischem. Was ich mir wie bei quasi einem Schachbrettmuster mit hellen und dunklen Quadraten vorstelle. Und ich denke, dass sich, je mehr sich die „hellen Anteile“ vermehren, bzw. man Gesundes und Gutes in sich aufbaut, sich quasi automatisch die „dunklen Flächen“ verringern, also überlagert werden.

    Auf Sie bezogen hieße das:
    Wenn Ihre 3 1/2-jährige Tochter bis jetzt viel Positives bekommen hat (und das auch weiter bekommt) und „nur“ eine negative Erfahrung gemacht hat, nämlich die Vojta-Therapie, dann müsste sich nach meinem Denk-Modell das doch ausgleichen (?), also vereinfacht gesagt, die guten die schlechten Erfahrungen überdecken, sodass Ihre Tochter, wie man sagt, wachsen, blühen und gedeihen kann.

    Ich hoffe, ich konnte meine Lebensphilosophie/mein eigenes Denkmodell verstehbar ausdrücken.
    Es soll ein Trost sein.
    Mit einem lieben Gruß von

    Melande

  3. Dunja Voos sagt:

    Liebe Kerstin,
    vielen Dank für diesen ehrlichen und mutigen Kommentar. Ich finde, es ist doch wichtig, dass Sie sich überhaupt damit auseinandersetzen. Die Schuldgefühle sind immens, das berichten viele Mütter! Aber wie Sie schreiben: Sie wollten ja helfen. Ich glaube, dass es wichtig ist, offen zu bleiben, auf die Fragen Ihrer Tochter zu antworten – mir schreiben viele ehemalige „Vojta-Kinder“, dass sie sehr darunter leiden, dass ihre Mütter und Väter kaum bereit sind zum Gespräch. Das Sprechen und Nachdenken darüber hilft dem Kind oft sehr. Ihnen alle guten Wünsche!
    Dunja Voos

  4. Kerstin sagt:

    Hallo,

    Ich bin beim erneuten recherchieren durch Zufall auf diese Seite gestoßen und bin gerade sehr aufgewühlt. Was ihr berichtet, wie ihr die Therapie empfunden habt und was sie für euch bis heute bedeutet und welche Auswirkungen das bei euch hat ist wirklich tragisch.

    Ich habe selbst nie nach Vojta „Turnen“ müssen, habe das aber mit meiner Tochter machen müssen… Und ich sage euch, die Schuldgefühle als Mutter sind immens. Auf der einen Seite möchte man seinem Kind helfen und jede medizinische Versorgung zuteil werden lassen, die es benötigt. Auf der anderen Seite, ist es schrecklich sein Kind schreien zu hören und zu wissen, dass du selbst es bist der dein Kind gerade zum schreien bringt.

    Meine Tochter war 1 Jahr alt als wir mit der Therapie angefangen haben und wir mussten das auch „nur“ ein halbes Jahr machen, 4 mal am Tag und sie hat jedes Mal geschrien und sich gewunden, sodass ich sie kaum halten konnte, es war furchtbar.
    Das ging komplett an meiner Bedürfnisorientierten Erziehung vorbei und ich habe mich damals schon gefragt, das macht doch was mit den Kindern…..

    Ich würde euch, als „Kinder“ gerne um Rat bitten, wie ich das mit meiner Tochter am besten verarbeite, bzw meiner Tochter am besten helfen kann, sollte sie später einmal ebenfalls noch unter den Spätfolgen leiden. Oder meint ihr sie kommt da unbeschadet durch, weil es im Vergleich wirklich eine kurze Zeit war die sie therapiert wurde. Sie ist inzwischen 3,6 und sie zeigt meiner Meinung zur Zeit keinerlei Anzeichen. Sie ist sehr lebensfroh und aufgeweckt, geht unheimlich gerne in den Kindergarten, kuschelt gerne und viel (sie schläft auch noch bei uns im Familienbett).
    Worauf sollte ich bei ihr achten? Und wie helfe ich ihr am besten? Ich würde mich über ein Rückmeldung sehr freuen

    Viele Grüße,
    Eine besorgte Mutter

  5. ingi sagt:

    Ich habe, auch Vojta bekommen, ich als ich 2 Jahre alt war, wurde mit der Therapie aufgehört.

    Meine Mutter, hat immer in meinem, Zimmer auf der, wickelkommode die übungen gemacht. Und hatte dabei die zimmertür offen.

    Und mein Vater hat immer gerufen, (Mach die Tür zu, ich kann das geschrei nicht ertragen)

    Anleiten, lies sich mein Vater auch, aber er kam damit nicht zurecht.

    Ich habe, Vojta sehr, viel zu verdanken, dank vojta, sitze ich jetzt nicht im Rollstuhl.

    Wenn ich heute, ich bin jetzt 29 jahre alt, wieder schmerzen am Rücken habe, hole ich mir, einfach wieder ein rezept für vojta. Und dann geht es meinem Rücken wieder besser.

    leider habe, ich niemanden, der mit mir die übungen macht. Mir wurde gesagt, das man eine übung auch zuhause selber, durchführen kann, aber ich habe das ausprobiert, und habe keine reaktion gemerkt. (Und meine ´Mutter möchte sich nicht anleiten lasse) Warum auch immer!

    Gruß Ingmar

  6. Dunja Voos sagt:

    Liebe Tia Mia,

    da sprechen Sie etwas Wichtiges an und Sie kennen es vielleicht selbst: Wenn die betroffenen Kinder als Erwachsene ihre Mütter auf die Vojta-Therapie ansprechen, herrscht tiefes Schweigen und eine große Verlegenheit. Die Mütter können sehr oft überhaupt nicht darüber reden, schon gar nicht mit ihren Kindern. Auch hier denke ich: Die Scham ist genauso groß wie bei sexuellem Missbrauch. Die Kinder können häufig gar nicht mit ihren Eltern darüber sprechen.

    Und die Scham ist paradoxerweise ein Grund für viele Mütter, diese Therapie jahrelang durchzuziehen: Sie können nicht aufhören, denn das Aufhören lässt sie das Unbehagen umso deutlicher spüren. Ich vergleiche es gerne mit Geisterfahrern oder anderen „falschen Lebenswegen“: Man gibt auf dem falschen Weg immer mehr und immer wütender Gas, irgendwie in der Hoffnung, dass sich ein Ausweg finden lässt.

    Ich finde dieses Thema auch psychologisch unglaublich spannend – weil es eben als „Therapie“ bezeichnet wird und doch so viel mit sexuellem Missbrauch gemeinsam hat.

    Viele Grüße
    Dunja Voos

  7. Tia Mia sagt:

    Liebe Dunja Voos,

    ich danke Ihnen für ihren Kommentar zur Scham. Sie haben treffende Worte gefunden für etwas, was selbst mich immer wieder so verstummen lässt. Sie ist mächtig so spürbar, aber ungreifbar meine Scham. Ich kenne einige Menschen, die aus Scham ganz und gar nicht wagen über ihr Erleben und Leid in der Therapie zu sprechen und finde diese doppelte Schambelastung, wie sie auf Seiten einiger behandelnden Eltern und zugleich bei ihren behandelten Kinder besteht, so bedenklich. Sie bringt, so scheint es mir manchmal, viel lähmendes Stillschweigen und Wortlosigkeit zwischen das Kind und seine Eltern und auch in den kritischen Diskurs um die Folgen dieser Therapie oder ihre Zulässigkeit.

    Liebe Grüße,
    Tia Mia

  8. Tia Mia sagt:

    Lieber Holger,

    ich kann mir gut vorstellen, was du berichtest und mich überläuft ein kühler Schauer, wenn ich deine Zeilen lese, wohl auch wegen meiner eigenen Erinnerungen. tröstlich, dass du deine Freunde hattest.
    Ich wurde 11 Jahre bis zu 4x täglich behandelt. Als ich 12 war konnte mich meine Mutter nicht mehr allein in den Positionen fixieren und ein behandelnder Arzt befand, ich sei nun zu alt für diese Therapie.

    Damals war ich vor allem einfach nur erleichtert und froh dieses Kapitel durchgestanden zu haben und schaute freudvoll in eine freiere Zukunft, vergaß vieles und ahnte noch nichts von den Folgen, die ich Jahre später erst mühsam erkennen sollte.

    Ich fand den Austausch mit dir berührend und wohltuend, würde ihn aber, ob der persönlich Intimen Erfahrungen ungern in so einem öffentlichen Blog, weiterführen,
    So wünsche ich dir alles Gute und verbleibe mit lieben Grüßen, Tia Mia

  9. Dunja Voos sagt:

    Lieber Holger, liebe TiaMia,

    habt ganz herzlichen Dank für Eure bewegenden Kommentare.

    Ganz entscheidend finde ich Eure Hinweise auf das Gefühl der Scham und Peinlichkeit. Ich glaube, dass die Vojta-Diskussion nur deshalb so in der Öffentlichkeit stockt, weil das Gefühl der Peinlichkeit unglaublich groß ist – sowohl bei den betroffenen Kindern/heute Erwachsenen als auch bei den Müttern, die diese Therapie oft jahrelang durchführten.

    Manchmal erhalte ich entrüstete Mails von Vojta-Therapeuten mit heftigen Vorwürfen – eine Therapeutin sagte mir, ich solle mich „schämen“ für meine Beiträge zur Vojta-Therapie. Manche Patienten bitten mich um Stillschweigen, weil ihre Mütter noch leben und sie wollen nicht, dass die Mütter sich noch mehr schämen und noch mehr Schuldgefühle erleiden.

    Es ist ganz, ganz wichtig, trotz dieser Scham über das Thema zu sprechen. Nur, wenn das Eis des Schweigens schmilzt, können vielleicht Kinder in der Zukunft vor dem selben Schicksal bewahrt werden.

    Herzliche Grüße
    Dunja Voos

  10. Holger75 sagt:

    Liebe Tia Mia,

    darf ich fragen, wie oft du am Tag Vojta behandelt wurdest und bis zu welchem Alter.?

    Man muss sich dass mal vorstellen: Im Ferienlager ca.30 Kinder im Alter von 10-12 Jahren. Ich als einziger mit einer Behinderung (Spastik rechte Seite) musste dort 4 Mal am Tag Vojta machen. Vor dem Frühstück. (Brauchst dich erst gar nicht anzuziehe, du musst jetzt turnen.) Dann kamen wir mittags vom Ausflug zurück, dann hieß es sofort reinkommen Holger, ausziehen, wort wörtlich und wir turnen jetzt. Am Nachmittag, während der freien Spielzeit, reinkommen turnen und vor dem Abendessen. Ich hatte also nie einen kompletten Tag und wurde immer aus der Gruppe rausgerissen. Das einzige Positive war, meine Freunde munterten mich immer auf. Es ging im Ferienlager immer einer mit, das haben die anderen Kinder mir versprochen, um mir durch ihr Dasein beizustehen.

    Liebe Grüße

    Holger

  11. Tia Mia sagt:

    Lieber Holger,

    ich danke dir für deine Antwort. Sie hat mich berührt und ich kann dich gut verstehen. Für mich war es auch niemals toll. Meine Mutter rief mich auch oft zur Behandlung vom Spielen rein. Mit genau dem gleichen Satz, Ich finde das Wort „turnen“ seither furchtbar. Ich habe niemals Irgendjemanden dabei haben wollen, weil es mir so schrecklich peinlich war, hätte mich Jemand so gesehen. Irgendwann musste ich immer weinen, so sehr ich versuchte, dass zu vermeiden und man sagte mir nur. „Das tut nicht weh und es ist quatsch, dass du weinst.“ Darum war es mir stets peinlich, wenn ich doch weinte und niemand sollte es sehen. Aber meine Schwester erzählte mir, dass alle Kinder und Freunde mein Schreien bis auf die Straße hören würden. Ich wurde auch mehrmals täglich und im Urlaub behandelt. Es tut mir so gut, dass du schreibst, dass ich mit meinen Erfahrungen recht habe. Danke auch, dass du von dir erzählt hast! – Ist angenehm, mit solchen Erfahrungen nicht alleine zu sein.

    Liebe Grüße,
    Tia Mia

  12. Holger75 sagt:

    Liebe Tia Mia,

    was du hier schreibst sind deine Erfahrungen und du hast recht, Irgendwann konnte ich auch nicht mehr und die Therapeutin oder meine Mutter machten einfach weiter, weil es ja so sein muss, damit es hilft.

    Was aber für mich schlimm war, wenn ich mit meinen Freunden auf der Straße spielte und meine Mutter mich rein rief, komm jetzt rein, du musst (turnen) und alle meine Freunde bekamen es mit. Manchmal kam mein bester Freund mit un blieb solange es dauerte dabei. Dies war für mich eine wichtige Stütze., ich war nicht alleine. 3-4 mal Tag wurde ich behandelt immer so 30 Minuten lang. Ist für ein Kind nicht so toll Erst mit 15 Jahren, war damit endlich Schluss.

    Mit 10 Jahren ging es ins Sommerferienlager 14 Tage. Ich dachte, da (turnt) niemand mit dir, aber falsch gedacht. Meine Mutter wies eine Betreuerin in die Griffe ein und wir nahmen die Matte einfach mit, So gind es dort fast genau so weiter wie zu Hause und die anderen Kinder bekamen dies oft mit. Holger rein kommen, du musst (turnen), diesen Satz werde ich wohl nie vergessen.

    Für Rechtschreibfehler möchte ich mich entschuldigen, bin gerade sehr erregt.
    Liebe Grüße

    Holger

  13. Tia Mia sagt:

    Liebe Frau Voos,

    ja, ich kann tatsächlich die vermehrten Probleme der Nacht bestätigen. mir erging es über Jahre so, dass ich in extremer Angst erwachte und nichts weiter dazu wusste. Manchmal musste ich mich übergeben, Die wenigen Male in denen ich meine Nächte mit Anderen teile berichten Freunde mir, dass ich laut schreie, oder das ich ängstlich bis wimmernd „Mama“ rufe und das mein ganzer Körper heftig angespannt ist, wenn sie mich wecken. Nach Jahren der Therapie erlebe ich nun oft ganz deutlich, dass es Körpererinnerungen der Therapie sind, die mich am Einschlafen hindern, manchmal unerträglich real, in jedem Fall immer so, dass ich in ständigem Druckgefühl und Angst da liege.
    Liebe Grüße, Tia Mia

  14. Dunja Voos sagt:

    Liebe Tia Mia,
    ganz herzlichen Dank ebenfalls für Ihren ehrlichen und mutigen Kommentar!
    Ja, die körperliche Spannung ist sicher enorm. Es ist sehr wertvoll, dass Sie darüber schreiben können!

    Diese Spannung drückt sich meiner Erfahrung nach bei vielen Betroffenen später auch im Alltag aus: Sie sind „steif wie Zinnsoldaten“ und können sich im Zusammensein mit anderen kaum frei bewegen.

    Wichtig finde ich auch Ihren Satz: „DANN entsteht extreme Angst um Körper und Seele und ein Gefühl unerträglichen Ausgeliefertseins. “ Auch hier wieder: Viele Betroffene – das kennen Sie dann vielleicht auch – leiden dann auch als Erwachsene immer wieder unter diesen furchtbaren Zuständen, die psychose-ähnlich werden können. Die Betroffenen fühlen sich vollkommen isoliert und haben das Gefühl, niemand wird ihre Todesangst verstehen können. Besonders nachts ist das bei vielen der Fall. Ich vermute, dass nachts, wenn der Körper auf dem Bauch liegt, wieder Körpererinnerungen wachgerufen werden. Diese sind nicht bewusst, sondern äußern sich durch plötzliche Angst beim nächtlichen Aufwachen. Auch das Gefühl vollkommener Sinnlosigkeit kann dabei entstehen. Das sind jetzt erst nur erste Vermutungen nach vielen, vielen Gesprächen mit Betroffenen …
    Herzliche Grüße
    Dunja Voos

  15. Tia Mia sagt:

    Beim Lesen des Beitrages, musste ich weinen, einfach, weil er so zutreffend ist. Ich wurde viele Jahre lang bis in die Pubertät behandelt und leide heute deutlich unter all den hier genannten Folgen, so dass ich noch als Erwachsene immer wieder zweifele, ob ich damit leben kann. Zugleich genieße ich seit der frühen Kindheit meine Wortgewandtheit und mein Ausdrucksvermögen. Es tut so gut, dass Sie den Mut haben. all das öffentlich zu machen und es für mich und tausende Betroffene und Babis in Worte zu fassen. Dadurch kann ich manchmal auch spüren, damit nicht alleine zu sein. Wunderbar.

    Allerdings habe ich die Therapie so lange und regelmäßig erlebt, dass ich deutlich sagen kann, ich denke dass nicht allein die Tatsache im Schreien nicht erhört zu werden dabei so quälend und schmerzlich ist. Ich habe dabei auch unter einer unerträglichen starken bis schmerzhaften Körperspannung gelitten, die sich mir auch durch die konkrete Anwendung der Methode erklärt. Durch die Reflexlokomotion zwingt der Therapeut das Kind zu Bewegung und verhindert diese dann durch Gegendruck, dabei entsteht starke Körperspannung, deren Dauer und Intensität einzig der Therapeut bestimmt. Alle Äußerungen des Kindes, dass es schon rein physisch nicht mehr kann, werden ignoriert. DANN entsteht extreme Angst um Körper und Seele und ein Gefühl unerträglichen Ausgeliefertseins. Zum Teil ist auch die konkrete Art der Fixierung zur Verhinderung unerwünschter Gegenwehr des Kindes fragwürdig gewaltsam. Vielleicht behandeln nicht einmal alle Therapeuten so. Aber allein ich habe unzählige Fachkundige erlebt unter denen diese Behandlungsweise üblich ist. Und ich sage das schlicht, weil ich es vielfach erlebt und bei anderen Kindern gesehen habe. Mir liegt nichts an blinder Wut oder Vorwürfen. Ich würde mir schlicht wünschen, dass man mir glaubt und das solche Erfahrungen anderen Kindern erspart bleiben.

    Danke für ihren Einsatz und herzliche Grüße, Tia Mia

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